Triebkraft der Geschichte

■ Endlich: der sexuelle Enthüllungsroman über die wirklichen Gründe der Wende

„Alle, die edler sein wollen, als ihre Konstitution es ihnen gestattet, verfallen der Neurose; sie hätten sich wohler befunden, wenn es ihnen möglich geblieben wäre, schlechter zu sein“, schreibt Freud über die sexuell „Perversen“. Klaus Uhltzscht, Held in Thomas Brussigs Roman „Helden wie wir“, hat diese Probleme nicht. Freimütig bekennt sich der Protagonist gegenüber dem Reporter der New York Times zu seinen Ausschweifungen. Seine Geschichte, die er dem Journalisten aufs Band diktiert, ist zugleich die Geschichte der „Wende“ in der DDR. Der Mann, dessen Name kaum auszusprechen ist, wächst in einer biederen DDR-Familie auf. Die Mutter ist „Bezirkshygieneinspektorin“ im Ostteil Berlins, der Vater arbeitet „im Außenhandel“, wie es heißt. Klaus kann sich die ewig schlechte Laune seines Vaters nur mit der Vorstellung erklären, daß es kein schöner Beruf sein, bei jedem Wetter, bei Sturm und Regen, im Außenhandel tätig zu sein. Erst die Jungs im Ferienlager klären den naiven Helden auf: „Mensch, dein Alter ist bei der Stasi.“

Zu Hause ist die Welt scheinbar in Ordnung: Klaus ist der gute Junge, den die Mutter liebevoll umhegt. Daher ist er denkbar schlecht vorbereitet, als zum ersten Mal „jene Mitte, die die Zeugung trägt“ (Rilke) zum handfesten Gegenstand eines Wettbewerbs wird. „Weitpissen“ heißt das Spiel im Ferienlager, und solche Wettbewerbsbedingungen wie „mit Anfassen oder ohne?“ und „mit Weitstrahlen oder ohne?“ verwirren den Unschuldsknaben über alle Maßen. Was zu Hause nur als Objekt hygienischer Fürsorge vorkommen darf, der Puller, wie es die Mutter ausdrückt, wird zum Dreh- und Angelpunkt der ganzen Geschichte. Überhaupt, die Mutter: „Sie findet nichts dabei, eine Katze Muschi zu nennen; einmal brachte es sie sogar fertig, beim Scrabble VULVA zu legen.“ Der pubertierende Klaus droht in die traurige Kluft zu fallen, die sich zwischen den Ansprüchen jenes Lebensalters und der Realität aufzutun pflegt: In Wirklichkeit pures Mittelmaß, „der letzte Flachschwimmer“, sieht er sich selbst schon als Protagonisten üppig gedeihen. Klaus Uhltzscht beginnt die ihn umgebende Wirklichkeit aus der Sicht seines Geschlechtslebens zu begreifen. Alles, was er erlebt, hängt auf verschlungene Weise mit den einsetzenden oder ausbleibenden Regungen jugendlicher Sexualität zusammen. Triebkraft der Geschichte ist nicht etwa Klaus Uhltzscht, sondern, mit Verlaub, sein Schwanz.

Uhltzscht hat ein simples politisches Weltbild. Wer im Osten aufgewachsen ist, wird sich an die Weltkarten im Schulatlas erinnern: Während die „sozialistische Staatengemeinschaft“ in lebensfrohem Rot und die „jungen Nationalstaaten“ immerhin in taufrischem Grün dargestellt wurden, blieb für die kapitalistische Welt ein stumpfes, totes Dunkelblau übrig. Doch von Jahr zu Jahr schmolzen die blauen Flächen, und eines Tages würden sie ganz verschwunden sein. Das glaubte zumindest unser Held und mit ihm alle, die es ihm beigebracht hatten, die Eltern, Lehrer und Schulatlantenhersteller, die wenig später als Helden der „friedlichen Revolution“ in die Geschichte eingehen sollten: „Helden wie wir“.

Klaus Uhltzscht bestreitet den überlieferten Hergang der Ereignisse. Nicht die demonstrierende und flüchtende Masse habe den Zusammenbruch herbeigeführt, sondern ein einzelner Mensch – er selbst. Und das ging so: Zunächst tritt Klaus in die Fußstapfen seines mürrischen Vaters und wird Offiziersschüler bei der Stasi. Er treibt es wöchentlich mehrmals mit einem Goldbroiler und denkt beim Onanieren an Erich Mielke. Diese Erfahrungen sollen nicht ungenutzt bleiben, gewiß gibt es im Westen einen Markt dafür. So könnte man dem chronischen Devisenmangel der DDR abhelfen. Nur wer noch nicht von der Geruchslappen-Sammlung der Stasi gehört hat, wird diese Idee für abwegig halten. Als im Herbst 1989 erste Auflösungserscheinungen den Staat heimsuchen, wird der Kadett zur Blutabnahme in die Zentrale beordert. Es stellt sich heraus, daß die frischen Zellen für den Generalsekretär bestimmt sind. Eines Tages kommt es zur Audienz beim „Blutsbruder“: Honecker spielt Mikado, „ein Spiel, bei dem man verliert, wenn sich etwas bewegt“. Der SED-Chef hat nun „Perversenblut“ in seinen Adern, und das ist seiner Amtsführung anzumerken: Es war jenes Quentchen an Perversion, das noch fehlte, um das Faß zum Überlaufen zu bringen.

Klaus Uhltzscht ist aber auch am Fall der Mauer schuld. Die Vorgeschichte reicht zurück in die Frühzeit seiner sexuellen – sagen wir höflich – Andersartigkeit. Damals hatte er vor dem Fernseher bei der Ansicht von Jutta Müller, der Trainerin von Eiskunstlauf- star Katarina Witt, erste Regungen seines Geschlechts verspürt. Nicht die smarte „Goldkati“ vom Zentralrat der FDJ, sondern Jutta Müller hat ihm das erotische Erweckungserlebnis beschert! Wer diese Frau vor Augen hat, weiß um die Schwere des Falls. Jene Jutta Müller also, die „Alterspräsidentin seiner Perversionen“, glaubt unser Held auf der großen Demonstration am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz reden zu hören. „Stell dir vor, es ist Sozialismus, und keiner geht weg“, schallt es von der Tribüne. Uhltzscht hat ein Ohr für die Halbherzigkeit dieser „Revolution“, es ist derselbe duldsam-betuliche Ton, der das Gebäude so lange zusammengehalten hat. Er möchte losrennen und ins Mikrophon schreien: „Stell dir vor, es ist Sozialismus, und keinen interessiert's“, stolpert dabei jedoch in einen U-Bahn-Schacht und verletzt sich – sein Schicksal liegt nun mal im Schritt – auf gefährliche Weise die Genitalien. Das Ergebnis einer notwendig werdenden Operation ist niederschmetternd: „Was ich sah, erinnerte mich an einen zertretenen Frosch.“ Damit noch nicht genug – infolge der Bluttransfusion und der nachfolgenden Operation – die Mediziner mögen's überprüfen – wächst das Glied des Patienten ins Unermeßliche.

Wirklich schmerzhaft sind jedoch nur die Erektionen, weshalb sich Uhltzscht mit einem Buch abzulenken versucht. Dabei klärt sich die Verwechslung vom Alexanderplatz auf: „Der geteilte Himmel“ von Christa Wolf ist die „Erektionsverhinderungslektüre“. Nicht Jutta Müller, sondern Christa Wolf hat ungewußt den genitalen Schmerz verursacht, für dessen Begrenzung eines ihrer Bücher nun herhalten muß.

Den Patienten hält es nicht lange im Krankenhaus. Auf dem Weg durch die Stadt kommt er in der Nacht der Maueröffnung am Grenzübergang Bornholmer Straße vorbei: „Da standen die Tausenden ein paar Dutzend Grenzsoldaten gegenüber und trauten sich nicht. Sie riefen: Wir sind das Volk! – und irgendwie traf das ins Schwarze. So artig und gehemmt wie sie dastanden, wie sie von einem Bein aufs andere traten und darauf hofften, sie dürften mal – kein Zweifel, sie waren wirklich das Volk.“ Eine Weile lang geschieht nichts, dann hat Uhltzscht eine Eingebung. Als gerade wieder einmal ein Besucher die Mauer von West nach Ost passiert, läßt er seine Hosen herunter, zeigt seinen Riesenschwanz und starrt mit breitem Grinsen die Grenzsoldaten an. Die Posten stehen wie gelähmt da, während von hinten die Massen schieben und durch das offene Tor in den Westen drängen. So war das.

Man kann allerhand an dem Buch von Thomas Brussig aussetzen, etwa den Douglas-Coupland- Sound oder die bisweilen unmotivierte Häufung genitalbezogener Lexik. Ob das unbedingt Lockerheit signalisiert, wage ich zu bezweifeln. Auch wird nicht ganz klar, warum die Geschichte auf dem Umweg über den Reporter der New York Times erzählt werden muß.

Wenn es aber darum geht, sich ein Bild von jenen Vorgängen in der DDR zu machen, die in unfreiwilliger Komik „friedliche Revolution“ genannt werden, wird man diesem Roman mehr Glauben schenken können als allen Tatsachenberichten. Peter Walther

Thomas Brussig: „Helden wie wir“. Roman, Volk und Welt 1995, 328 Seiten, geb., 36 DM