Blaues Kamel trifft Blauen Drachen

■ Rainer Nathow, Veteran der Bremer Psychiatriereform, trägt die Ideen der Blaumeierbewegung nach China

Blau heißt lan. Aber Meier? „Blaumeier“ ins Chinesische zu übersetzen, dürfte schwerfallen. Das Phänomen „Blaumeier“ als Bremer Symbol einer offenen Psychiatrie in China zu erklären, wird aber eine der Aufgaben von Rainer Nathow und Birgit Klenke sein: Die beiden Bremer, seit vielen Jahren in der Bremer Psychiatriereform engagiert, packen dieser Tage ihren gesamten Hausrat in einen 20-Fuß-Container. Am 24. September brechen sie für zunächst zwei Jahre auf nach China, ins ganz Fremde. Nathow hat dort als Psychologe eine Stelle im deutsch-chinesischen Projekt „Gemeindenahe Versorgung der psychisch Kranken im Stadtbezirk Jiang An“ der Stadt Wuhan bekommen.

Ihre Wohnung steht Kopf. Die beiden Auswanderer auch. Zwischen Umzugskartons und Bücherstapeln, chinesischen Wörterbüchern und Ordnern („Wohnung in Wuhan“) findet man nichts mehr wieder und stolpert über alles. Drei Monate Crash-Kurs in Chinesisch und Chinakunde liegen hinter den beiden. Huan ying (willkommen!) und ni hao (guten Tag!) gehen ihnen flüssig über die Lippen. Sie wissen viel über Wuhan, eine der vielen Millionenstädte, die hier niemand kennt. Wuhan hat den größten Binnenhafen Chinas und liegt 900 km den Jangtse aufwärts. 30 Unis und Hochschulen, Sommer heiß, „Bremer“ Winter. Viel Schwerindustrie, Reisanbau und 1000 Seen.

Sie haben auch eine Vorstellung vom Stadtteil Jiang An, der so viele Einwohner wie Bremen hat. Sie ahnen etwas von den ungezählten Fettnäpfchen, die auf Ausländer in China warten, wo man schnell jemand ohne Absicht lebenslang kränkt. Und sie fürchten etwas die 20.000 verwirrenden Schriftzeichen, die ihnen zunächst nichts sagen werden. 40 Zeichen erkennen sie bis jetzt: das Zeichen für Apotheke zum Beispiel, für Kino und –wichtig – für den Sicherheitsdienst.

China – das ist für Rainer Nathow so etwas wie eine biografische Fügung. Letztes Jahr haben er und seine Lebensgefährtin dort Urlaub gemacht, sind fünf Wochen mit dem Rucksack durchs Land gezogen. Sie machten zahlreiche verwirrende und gute Erfahrungen mit den Menschen dort. Ein Beispiel gefällig? Sie mußten einen Dampfer kriegen. Das Taxi hatte sich verfahren. Da nahmen wildfremde Menschen sie in ihre Mitte und lotsten sie durch finsterste Gassen und Winkel. Der gehbehinderte Nathow wurde kurzerhand huckepack genommen und samt Gepäck zum Schiff getragen. Viel zu lachen gab's mit der Sprache. Meint man, Suppe bestellt zu haben, kommen gezuckerte Tomaten. Fragt man nach dem Postamt, verstehen die Leute „Tintenfisch“.

Wieder daheim, schlug bald darauf das Schicksal in Form einer Stellenausschreibung zu. Mitten in China, in Wuhan, im Projekt des alten deutschen „Psychiatriearbeiters“ Heinz Klätte, wurde ein Psychologe und Psychotherapeut gesucht - das paßte zu genau. Spontan bewarb sich Nathow. Erfolgreich. Im Bremen, wo er 14 Jahre lang den Sozialpsychiatrischen Dienst in Vegesack mit aufgebaut hatte, litt er ohnehin am Roll-back innerhalb der dezentralen Gemeindepsychiatrie (Nathow: „Die Klinik hat alles wieder im Griff“). Statt auf die Rente zu warten, eine neue Aufgabe: das wär's.

Was weiß man hierzulande über die psychisch Kranken in China? Sind es viele? Sind sie anders krank? Funktioniert die chinesische Psyche überhaupt anders? Kann man von den Chinesen und ihren traditionellen Behandlungsmethoden mehr lernen als die Chinesen vom Bremer Reformmodell? Fragen, auf die Nathow noch keine Antworten hat. Wenig weiß man. Die stationäre Psychiatrie (ambulante ist in China fast unbekannt) in der 7-Millionen-Stadt Wuhan hat gerade 400 Betten. Viele Probleme werden vermutlich innerhalb der Familien bzw. der „Danwei“, den für alle Fragen des Lebens bis hin zur Eheschließung zuständigen betrieblichen Einheiten, aufgefangen. Andererseits gelten in China seelisch Erkrankte als unansprechbar, unverstehbar, arbeitsunfähig, gefährlich und unheilbar. Es soll dort mit Unmengen von Medikamenten gearbeitet werden.

Mit einer in China unbekannten Arbeitstherapie versucht Projektleiter Heinz Klätte, der früher in Bethel gearbeitet hat und erster Vorsitzender der DGSP (Deutsche Gesellschaft für soziale Psychiatrie) war, solche Vorurteile in Wuhan zu widerlegen. „Wir fangen dort an, wie wir hier in den 60ern angefangen haben,“ meint Rainer Nathow. Dieselben Fragen, die sich seinerzeit bei der Auflösung der Bremer Langzeitpsychiatrie Blankenburg stellten: Gibt es eine Behandlung ohne Gitter? Ohne Medikamente? Sein Beitrag wird, neben Ausbildung der Mitarbeiter, Forschung, Kontakte knüpfen und eine „Brücke“ nach Bremen bauen, eine mehr künstlerisch ausgerichtete Therapie sein: Musik, Malen, Maskenbau. Wie Blaumeier in Bremen eben.

Rainer Nathow wird ordentlich verdienen, etwa das Doppelte des dort üblichen Lohnes. Umgerechnet 165 Mark. Die Chinesisch-Deutsche Gesellschaft für Rehabilitation der seelisch kranken Menschen legt zum Glück noch etwas drauf. Birgit Klenke, die im Sozialpsychiatrischen Dienst in der Horner Straße als Krankenschwester gearbeitet hat, will möglicherweise Deutschunterricht geben.

Im Augenblick gehen den Auswanderern aber ganz andere Sachen im Kopf um. Alle Abos müssen gekündigt werden, sie müssen in einen private Krankenversicherung, die Regelung der Altersversorgung kostete viele Nerven, Finanzamt, internationaler Führerschein, das Auto soll in den Container ... Und gewisse Dinge müssen vorsorglich und in größeren Mengen mitgenommen werden: Kaffee! Damenschuhe Größe 41! Deutschsprachige Bücher! Vielleicht auch ein Sack Mehl – es gibt kein Brot in Wuhan. Die nächste Baguetterie ist 900 Kilometer entfernt. Nur ein westliches Kulturgut findet man ohne jede Schwierigkeit überall, zum Beispiel mitten in der Halle des Volkes: einen Cola-Automaten.

Wenn Rainer Nathow träumt: dann sieht er in Wuhan ein Café Blau, wo es aber Tee gibt. In den Werkststätten werden unter Anleitung chinesischer Künstler Drachen gebaut. „Blaue Delegationen“ pendeln zwischen Bremen und Wuhan hin und her. Und 1997, das hat er aber tatsächlich fest vor, gibt es einen Fachkongreß dort, da reist Blaumeier an, und das Blaue Kamel trifft den Blauen Drachen.

Burkhard Straßmann