Abschied vom schönen Schein

■ Gesichter der Großstadt: Marion Spadoni war die erste Direktorin des späteren Friedrichstadtpalastes. Noch heute träumt die 90jährige von "Fliegern" und "Fängern"

Die Kraftmeier vom „Cirque du Soleil“, die hätte sie sich schon gerne angesehen. Doch ihre Bitte um eine Karte, meint sie, muß wohl „mißverstanden“ worden sein. Für ihren Rollstuhl, teilten ihr die Saltimbanco-Macher mit, gebe es im Zelt keinen Platz, wegen der steilen Treppen an den Eingängen. „Wenn die gewußt hätten, wer ich bin“, sagt die 90jährige Marion Spadoni, „wäre das nicht passiert.“

Artisten in farbenfrohen Kostümen auf die Bühne zu schicken, das hat die Frau mit dem schlohweißen Haar, die heute in einem Seniorenwohnheim in Lichterfelde in einem winzigen Zimmer lebt und ihre Besucher – bei aller Zuvorkommenheit – durch die dicken Brillengläser kritisch mustert, auch getan – früher, in ihrem „Palast der 3.000“. Damals, vor ziemlich genau 50 Jahren, hat Marion Spadoni das erste Varietétheater im Nachkriegs- Berlin eröffnet. Am 5. August 1945 teilte die in der Charlottenburger Schlüterstraße residierende Kammer der Kulturschaffenden, Referat Artistik, dem „Fräulein Marion Spadoni höflichst mit, daß ihr Antrag auf Erteilung einer Konzession für das ,Palast-Varieté‘ im Theater des Volkes befürwortet an den Magistrat weitergeleitet“ worden sei.

Knapp zwei Wochen später war es soweit: Im ehemaligen Circus Schumann, jenem Musentempel, den sich Max Reinhardt von dem expressionistischen Architekten Hans Poelzig 1919 zum „Theater der 5.000“ hatte umbauen lassen, hieß es erstmals seit langen Jahren wieder: „Vorhang auf!“ Am Eröffnungsabend in dem notdürftig zurechtgeflickten Haus in der Nähe des S-Bahnhofs Friedrichstraße wirkten unter anderem mit: Carter, der „Mann mit den 100.000 Karten“, Faßspringer Aldino, der aus dem Stand in ein Meter hohe Tonnen sprang, und Elly, die „einzige der Truppe“, so der Rezensent der Tageszeitung Das Volk, „die den Einfingerhandstand fertigbringt“. Ab da standen täglich Vorstellungen auf dem Programm, am Wochenende sogar bis zu drei hintereinander, die meisten davon waren ausverkauft.

Die Begeisterung fürs Varieté war der 1905 in Werder an der Havel geborenen Berlinerin, wie man so sagt, in die Wiege gelegt worden. Ihre Mutter, Mary Schumann, Pflegetochter des großen Zirkusdirektors Schumann, war Kunst- und Dressurreiterin. Vater Paul Spadoni, ein gebürtiger Krause, hatte als Kraftjongleur Karriere gemacht und betrieb danach eine damals weithin bekannte Künstleragentur.

So wurde auch Tochter Marion zuerst Kunstreiterin, dann Tänzerin und schließlich Zauberkünstlerin, bevor sie für zwei kurze Jahre als „Frau Direktor Spadoni“ in Berlin für Furore sorgte. Dabei war die Anfangszeit im „Palast“ alles andere als einfach. Oft fehlte es am Nötigsten: Mal gab es kein Wasser, an anderen Tagen fiel der Strom aus, die Artisten waren so ausgehungert wie ihr Publikum. Was mitunter fatale Folgen hatte: Spadoni erinnert sich mit Schrecken an einen Akrobaten, der beim Vorturnen entkräftet vom Hochreck stürzte und sich dabei „sehr weh getan hat“. Noch heute macht sie sich Vorwürfe, ihn nicht rechtzeitig zurückgepfiffen zu haben. Auch ließ nach dem heißen der Kalte Krieg nicht lange auf sich warten. Die russische Militärkommandantur wollte alle „gesprochenen und gesungenen Texte“ auf deutsch und auf russisch vorgelegt bekommen.

Und dann kam das Aus. Am 31. Juli 1947 beschloß die sowjetische Militärkommandantur, die Lizenz für das Palast-Varieté zum 1. September einzuziehen, da „der Direktor, Frau Marion Spadoni – wie erst jetzt bekannt wurde – in der Nazizeit durch ihre Tätigkeit mit der NSDAP in Verbindung stand, während des Krieges Künstlertruppen für die deutsch-faschistischen Streitkräfte aufstellte und ein Varieté in den von den Deutschen besetzten baltischen Sowjetrepubliken leitete“.

Spadoni machte erst gar nicht den Versuch, das zu leugnen. Sie hatte schon zwei Jahre zuvor ihre Karten auf den Tisch gelegt. Ob ihr die Lizenz vielleicht nicht entzogen worden wäre, wenn die Direktorin beim geforderten Aushorchen von alliierten Offizieren etwas kooperativer gewesen wäre, steht auf einem anderen Blatt.

Von diesem Schlag erholte sich Marion Spadoni nicht mehr. Eine Zeitlang probierte sie in Köln, ein neues Varietétheater aufzubauen. Als dies fehlschlug, kehrte sie der Artistik endgültig den Rücken und zog zu ihrer älteren Schwester nach Rom. Mehr will sie über ihren Abschied aus der Welt des schönen Scheins nicht erzählen. Seit zehn Jahren lebt sie wieder in Berlin, zurückgezogen, vergessen, aber nicht allein. Manchmal tauchen für sie fremde Wesen in ihrem Zimmer auf, „Flieger“ und „Fänger“, „Ober-“ und „Untermänner“, tanzende „Boys“ und „Girls“. Dann ist es ganz wie früher. Ulrich Clewing