Im Blindflug auf der Rollbahn

■ 180 Blinde und Sehschwache erfüllten sich einen Traum: Im Geschwindigkeitsrausch düsten sie über die Flughafenpisten in Gatow

Die Frau muß verrückt sein. Angela Seiler rutscht tief in den Fahrersitz. Sie drückt das Gaspedal des roten Golfs so tief durch, wie ihre Beine reichen. Im Nu hat sie von 60 auf 110 km/h beschleunigt. Vor ihr liegt eine drei Kilometer lange Piste. Je lauter der Motor aufheult, um so amüsierter lacht sie. Vor ihr fährt ein Auto im Schneckentempo. Vom Überholen auf der linken Seite hält sie nichts. Sie reißt das Steuer nach rechts. Haarscharf rattert sie am Rasenrand entlang. Doch diese Erschütterung entlockt ihr nur ein kurzes Lachen. Abrupt zieht die 40jährige das Lenkrad nach links und hält direkt auf ein Auto neben ihr zu. Nur noch wenige Zentimeter liegen zwischen den beiden Wagen. Die Tachonadel steht noch immer auf 110 km/h. Da sagt der Beifahrer: „Ein bißchen mehr rechts“ – und der befürchtete Zusammenstoß bleibt aus.

Was für Seiler eine Mordsgaudi ist, ist für die Mitfahrer auf der Rückbank ein Horrortrip. Mit aufgerissenen Augen hoffen sie auf ein Ende ohne Schrecken. Nur der Mann mit der dunklen Brille, der hinter der rasanten Fahrerin sitzt, ist die Ruhe selbst.

Denn er weiß, daß sie weder lebensmüde noch verrückt ist. Sie ist seine Frau und blind. An diesem Tag vor zwölf Jahren haben die beiden geheiratet. Bei ihrer Trauung haben sie nicht daran gedacht, eines Tages hinterm Steuer zu sitzen. Im Gegensatz zu ihrem Mann, der als Jugendlicher noch ein Sehvermögen von zehn Prozent besaß, weiß Angela Seiler nicht, wie ihr Gefährt aussieht. Doch eine Vorstellung hat sie schon: „Es ist ein einziges Blech. Vorne hat es zwei Lichter, hinten zwei Rücklichter. Und vorne und hinten kann man durch die Scheibe fliegen“, fügt sie lachend hinzu.

Gerade das gilt es bei der Aktion „Autofahren für Blinde“ auf dem Flughafen Gatow zu verhindern. 180 blinde und sehschwache Frauen und Männer düsen, kurven und rasen an diesem Samstag nachmittag über die Start- und Landepisten. Damit erfüllen sie sich einen ihrer größten Wünsche. Daß das Autofahren nur den Sehenden vorbehalten sein soll, wollen die knapp 200 der insgesamt etwa 700.000 Blinden und hochgradig Sehschwachen in Deutschland nicht akzeptieren. Viele von ihnen haben lange Anfahrtswege auf sich genommen, um das verführerische Angebot des Allgemeinen Blindenvereins und der über einhundert Fahrlehrer anzunehmen. Sie sind mit ihren gelben Armbinden, weißen Stöcken, Blindenhunden und Begleitpersonal aus Sachsen, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg angereist. Einer sogar aus dem fernen Luxemburg.

Angela und Hans-Dieter Seiler aus Holzminden müssen wie alle anderen blindes Vertrauen zum Fahrlehrer haben. Fahrlehrer Wolfgang Klotzsch weiß zwar, daß er im Notfall auf die Bremse steigen kann. Doch er weiß auch, daß Blinde „die besseren Autofahrer“ sind. Wofür Sehende unter Umständen Stunden oder gar Tage brauchen, verinnerlichen sie mit ihren „Restsinnen“ in kürzester Zeit. „Aha“, kommentiert Angela Seiler die Beschreibung des Fahrlehrers der H-förmigen Gangschaltung. Kaum hat sie die Gänge im Trockenlauf durchgeschaltet, dreht sie den Schlüssel im Zündschloß um, legt den ersten Gang ein und fährt los. Butterweich, ohne zu ruckeln. Traumwandlerisch bewegt sie sich nach den Anweisungen des Fahrlehrers inmitten der einhundert Fahrzeuge. Nach dem zweistündigen „Blindflug“ haben die Fahrlehrer nicht eine einzige Beule zu beklagen. „Nicht sehen zu können ist manchmal ein auch Vorteil“, sagt Hans- Dieter Seiler, als er aus dem Auto steigt. Klar, wenn man den Mann gar nicht sieht, den man fast umgenietet hätte und gar nicht weiß, daß der Außenspiegel fast die Tragfläche einer der Maschinen am Rande der Piste gestreift hat.

Seiler hofft, daß die Aktion, die zum zweiten Mal in Gatow stattfand und in zwei Jahren wiederholt werden soll, zur besseren Verständigung zwischen Sehenden und Nichtsehenden beiträgt. Der 53jährige, der sich als Leiter der Pressezentrale des gemeinnützigen Vereins für Blindenpresse engagiert, will nichts weiter, als daß Menschen mit und ohne Blindenstock ohne falsche Hemmungen miteinander umgehen. Einen Wunsch, für den er in einem seiner „sozialkritischen Märchen“, die er auf seinem Computer schreibt, eine Lösung parat hat: „Gleichgültigkeit ist ein tödlicher Virus, der die gesamte Menschheit zu erfassen droht. Wir sind aber keineswegs dieser Seuche hilflos ausgeliefert. Es gibt eine Medizin: Es ist eine Mixtur aus Toleranz, Nächstenliebe, Solidarität und Achtung der Menschenwürde.“ Barbara Bollwahn