Das Dornröschen ist zurück

Stefanie Graf schlägt im Finale der US Open Monica Seles in drei hart umkämpften Sätzen: Alles ist nun so, wie es einmal war, und doch ist nichts wie zuvor  ■ Von Thomas Winkler

Man hat uns ein Märchen erzählt: Das Dornröschen hat seinen langen Schlaf gut überstanden, die Sieben Zwerge geben freiwillig das Kanonenfutter ab, und selbst ein reicher König klopft wieder an die Schloßtür. Nur die böse Hexe möchte ihrer Rolle nicht mehr genügen und wird den nächsten Aufführungen fernbleiben, um seelische und körperliche Leiden zu kurieren.

1.Das Dornröschen

Das Dornröschen hat Gewichtsprobleme. „Ich nehme schon ein Kilo zu, wenn ich nur an einem Schild von McDonald's vorbeifahre“, erzählt Monica Seles. „Die Dicken sind oft stärker, mit einem guten Kopf und ein bißchen Händchen“ ließe sich bei den Frauen viel erreichen, analysiert Bundestrainer Klaus Hofsäss. Seles selbst ist verwundert, daß sich „in den letzten zweieinhalb Jahren im Frauentennis nichts Neues getan hat“. Damit sich aber etwas Neues tat, mußte das kürzlich in den USA eingebürgerte Dornröschen schon aus seiner verwunschenen Burg herauskommen, ihre Psychiater zum Teufel schicken, sich trotz aller Ängste wieder auf den Tennisplatz wagen und eine allgemeine Hysterie im Publikum und Lethargie bei den Gegnerinnen auslösen.

2. Die Sieben Zwerge

Im Halbfinale leistete selbst die Weltranglisten-Dritte Conchita Martinez gegen die Rückkehrerin kaum Widerstand. Ihre spanische Landsfrau Arantxa Sanchez-Vicario, immerhin Titelverteidigerin und Weltranglistenzweite, ging einer Auseinandersetzung tunlichst aus dem Wege und hatte sich bereits im Achtelfinale gegen Mary- Joe Fernandez verabschiedet. Alle Zwerge schlugen alibimäßig ein paar Bälle zurück, eilten nach kurzer Spielzeit erleichtert ans Netz und verteilten Küßchen. Nur im Finale geriet Seles an ihre Grenzen. Dabei fiel die erste Niederlage nach ihrem Comeback und 28 Monaten Turnierpause auch noch recht unglücklich aus. Im Tie- Break des ersten Satzes wurde ihr ein As beim Satzball vom Schiedsrichter aberkannt. Graf machte die nächsten drei Punkte und gewann den Satz. Im zweiten aber führte sie Graf mit 6:0 vor. Im dritten mangelte es noch an der Kondition der „übergewichtigen Kichererbse“ (Seles über Seles) — 6:3 für Graf. Doch die Weltranglistenerste mit den Steuerproblemen, das zeigten diese US Open, und ihre Konummer eins spielen in einer eigenen Liga. Einfach eben „tolles Tennis“, wie Seles nach den „zwei großartigen Wochen“ in New York erleichtert feststellte.

3. Der reiche König

Und das Dornröschen hat — so scheint's — ganz nebenbei die weibliche Hälfte des Tennisgeschäfts gerettet. Ein reicher König hat sich gemeldet bei der WTA, dem Verband der professionell Tennis spielenden Frauen. Der hat seit fast einem Jahr verzweifelt nach einem neuen Hauptsponsor gesucht. Der König heißt Corel, stammt aus den USA und möchte viele Millionen Dollar zahlen, um hauptsponsorend mit der WTA- Tour für seine Computer-Programme zu werben. Die vielen privaten Vulgärdramen, die das Frauentennis momentan schreibt, dürften dabei ebenso werbewirksam sein wie die Tatsache, daß sich mit dem erwachten Dornröschen endlich eine Spielerin gefunden hat, die perspektivisch die böse Hexe schlagen kann, ohne daß die sich gleich ein Bein brechen muß.

4. Die böse Hexe

Die böse Hexe aber wollte die ihr zugedachte Rolle nicht mehr spielen. Anstatt als ungeschlagene Regentin anzureisen, hatte sie ihren Vater hinter Gittern verschwinden sehen und prompt in Toronto gegen eine Südafrikanerin namens Amanda Coetzer erstmals in diesem Jahr verloren. Und im Rücken, dem so dauerhaft bösen, muckten wieder die Knochenablagerungen, gegen die alle Zauberkräfte nichts helfen wollten. Während des Halbfinales gegen die „schöne“ (B.Z.) Gabriela Sabatini wollte dann auch noch der linke Fuß nicht mehr so wie seine Besitzerin. Der Verdacht auf Ermüdungsbruch wurde beim Röntgen im Krankenhaus zwar nicht bestätigt, nur eine Knochenhautentzündung diagnostiziert, aber spätestens zu diesem Zeitpunkt war die Hexe aus der Rolle gefallen und taugte nicht mehr als Widerpart zum glanzvollen Comeback des eingebürgerten Dornröschens. Fast hatten sich die Rollen verkehrt. Nach dem Finale sprach Graf vom „größten Sieg, den ich je erreicht habe. Kein anderer kommt dem auch nur nahe.“ Und als die Journalisten das sonst eingehaltene Schweigegelübde brachen und Fragen nach ihrem Vater stellten, brach sie während der Pressekonferenz in Tränen aus. Später kündigte sie an, frühestens am 6. November in Philadelphia wieder spielen zu wollen. Und das auch nur, wenn es die „körperliche Verfassung zuläßt“.

5. Das Happy-End

Als die Schlacht geschlagen war, das Finale vorbei war, trafen sich die beiden Protagonistinnen unseres Märchens in der Mitte des Platzes, der für beide die Welt bedeutet. Die eine hatte gerade eine Therapie beendet, die andere ihre erste schwere Sitzung hinter sich gebracht. Sie umarmten sich, sie küßten sich und tauschten herzliche Worte. Es wirkte echt. Für die Verliererin hatte gerade ein neuer, hoffnungsvoller Lebensabschnitt begonnen. Die Siegerin blickte in eine ungewisse Zukunft.