Zu guten Taten verpflichtet

Russische Pfadfinder wollen mehr als nur Pioniere sein  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Vielleicht ist der Ausdruck „gottverlassen“ für den Stadtteil Bratejewo im Moskauer Süden übertrieben. Aber keine Kirche oder ähnliches deutet zwischen den öden Wohnburgen für 60.000 Menschen auf die Existenz eines höheren Wesens hin. Und auch sonst ..., der Moskwa-Fluß hat hier schon die ganze Stadt durchquert und dünstet so viele Schwermetalle aus, daß es den Sportlehrern verboten ist, Unterricht im Freien abzuhalten: zu gefährlich.

Hierhin hat man die sogenannten „Limitschiki“ weggesteckt, ungelernte ArbeiterInnen, deren Anspruch auf eine Zuzugsgenehmigung nach jahrelanger Fron in der Hauptstadt nicht mehr abgewiesen werden konnte. Hier wurden die Armen verstaut und auch die Kinderreichen.

Für Gromow, einen rosigen Fünfzigjährigen, war sein Beruf als Sonderpädagoge stets Berufung. Wir aber treffen ihn nicht am Arbeitsplatz, sondern hinter einem Hauseingang mit der Aufschrift „Skaut-Klub“, geöffnet täglich ab 17 Uhr, donnerstags und freitags ab 14 Uhr, sonnabends und sonntags: Spiele, Wanderungen, Ausflüge. „Skauty“ nannten sich in Rußland PfadfinderInnen seit 1909 in der Nachfolge der nur zwei Jahre zuvor gegründeten englischen Boy-Scouts-Bewegung. Nach 1917 aber waren sie zunehmend Repressalien ausgesetzt, und 1926 wurden sie verboten. Damals gab es in den verschiedenen russischen Gouvernements etwa genauso viele Pfadfinderinnen wie heute wieder: etwa 50.000.

Gemeinsam mit ein paar IdealistInnen von der Komsomol-Hochschule witterte Gromow 1988, auf dem Höhepunkt der Perestroika, eine Chance zur Wiederbelebung der Scout-Idee. Damals entstand der „Skaut-Klub“ von Bratejewo, in den heute regelmäßig bis zu 200 Jungen und Mädchen zwischen zehn und vierzehn Jahren gehen.

Leider gibt es heute in Rußland etwa ebenso viele Pfadfinder- Dachorganisationen wie Parteien oder Banken. Besonders bemerkbar machen sich die „rechtgläubigen PfadfinderInnen“ unter den Fittichen der orthodoxen Kirche. Von den vier traditionellen Grundpflichten der Bewegung – der Pflicht vor Gott, dem eigenen Land, dem Nächsten und sich selbst – schreibt Gromow die erste aus den zu Anfang erwähnten Gründen am kleinsten: „Wir unterstützen zwar den Glauben, daß es da oben irgend etwas gibt, aber schließlich sollen unsere Kinder nicht zum Heucheln gezwungen werden.“

Obwohl natürlich auch bei den heutigen russischen PfadfinderInnen das Gemeinschaftserlebnis entscheidend ist, sind die vielen Organisationen bemüht, sich von den überlebten Pionierstraditionen abzusetzen, indem sie die Entwicklung des Individuums und seiner Fähigkeiten in den Vordergrund stellen. Bei den regelmäßigen Sommerlagern im Wald wird nicht in Großzelten geschlafen, sondern „Kleinfamilien“ von jeweils etwa fünf Leuten bewohnen gemeinsam eine Hütte.

Verwöhnte Sprößlinge langweilen sich vielleicht in der Natur, aber Natascha und Sascha, die zur ungewohnten Vormittagszeit hereinschneien, erzählen geradezu enthusiastisch von den Ausflügen und Skiwanderungen. Und wie steht es mit den berühmten guten Taten? Die hübschen Bäume vor dem Haus haben die PfadfinderInnen selbst gepflanzt, dazu noch 600 andere in zwei kleinen Parks dieses Wohnviertels. Die Hälfte davon ist zwar aufgrund der vergifteten Umwelt wieder eingegangen, aber die anderen blühen und gedeihen.

Im Unterschied zu anderen AltersgenossInnen machen sich Natascha und Sascha nicht lustig über die Armen im Geiste: Zweimal im Jahr organisieren die PfadfinderInnen Ausflüge für die InsassInnen der Lernbehinderten- Internate. Einen ganzen Monat arbeiten sie jeweils vorher, um geeignete Marschrouten auszuarbeiten, Zelte und Plattformen zu bauen, die alten Spiele neu zu variieren und neue Spiele zu erfinden.

„Spektakuläre Hilfsaktionen gibt es bei uns nicht“, sagt Gromow. „Geholfen wird bei uns unmerklich, von Tag zu Tag. Die beste soziale Hilfe, die die Jugendlichen unter den Umständen hier leisten können, besteht darin, etwas für das gemeinsame Wohlbefinden zu tun. Da haben wir zum Beispiel neulich hier, in diesen Räumen, eine Riesenfete zum Geburtstag eines vierzehnjährigen Jungen steigen lassen. Für andere Jugendliche wäre das eine Party gewesen wie jede andere. Aber für diesen Jungen war es mehr als eine gute Tat. Er hatte es in seinen vierzehn Jahren noch nie erlebt, daß irgend jemand diesen Tag mit ihm feierte, und bekam zum ersten Mal in seinem Leben aus diesem Anlaß sogar Geschenke.“