Mäßige dich, dann mäßige auch ich mich

■ Neue Essays des Ostberliner Soziologen Wolfgang Engler zur Zivilisationstheorie

Der Autor sitzt zwischen allen Stühlen. Und das ist gut so. Wolfgang Engler ist in der westlichen Gesellschaft nicht zu Hause, die östliche gibt es so nicht mehr. Wer nirgends hingehört, wird orientierungslos, oder es schärfen sich Sinne, wie in diesem Fall. Wer draußen bleiben muß, ist im Vorteil gegenüber Stubenhockern, die ihre gutbeheizten Räume nicht gern lüften. Der 1952 geborene Soziologe macht den Abstand zur Methode und bürstet gegen den Strich, was allzu selbstverständlich ist. Herausgekommen ist eine soziologische Reise durch die eigene Kultur.

High-noon für die Zivilisationstheorie. Engler versammelt zum Duell. Norbert Elias, der Begründer der Zivilisationstheorie, wird aus der Deckung geholt. Seine These von der zunehmenden Affektkontrolle, dem Zwang zur gegenseitigen Mäßigung in immer differenzierteren Gesellschaften steht auf dem Spiel. Die Gegner: der wilde Ethnologe Hans-Peter Dürr, der mehrbändig gegen die moderne Verrohung der Sitten predigt, Horkheimer und Adorno, die schwermütig um die „Dialektik der Aufklärung“ kreisen, und der polnisch-englische Soziologe Zygmunt Bauman, der ihr Theoriegerippe mit soziologischem Fleisch versieht.

Elias steht mit dem Rücken zur Wand. Also macht Engler Elias stark. Eigentlich, so argumentiert er, gebe es bei Elias zwei Zivilisationsprozesse. Man müsse unterscheiden zwischen „linearer und verschachtelter, zwischen singulärer und pluraler Zivilisation“. Was bedeutet das? Engler unterscheidet verschiedene Prozeßformen. Zunächst spricht er von „einfacher Zivilisierung“: „Man wird zivilisiert, ohne sich zu zivilisieren.“ Bei der zweiten Variante hingegen, der „reflexiven Zivilisierung“ wendet man den Prozeß auf sich selbst an: „Man erfährt, daß sich andere an einen selbst in dem Maße binden, in dem man sich ihnen gegenüber Zurückhaltung auferlegt und die Erwartungen relativiert, sie, die anderen, seien nur für einen selbst da.“

Eine sichere Sache? Nein. „Die Zivilisation ist niemals beendet und immer gefährdet“, wirft Elias skeptisch ein. Die zivilisatorische Zukunft ist offen und voller Ambivalenzen, mal mehr, mal weniger Zivilisation. „Welche der beiden Richtungen Oberhand gewinnt, das hängt von Umständen ab, über die wir bis heute keine Kontrolle haben.“ Damit taumelt der späte Elias Horkheimer und Adorno in die Arme. Und hier kommt Bauman ins Spiel. Was ist, wenn Vernunft gar nicht in Wahnsinn umschlagen muß, wenn ganz ohne böse Absichten und niedere Instinkte Grausamkeiten geschehen, wenn wie im Fall von Rudolph Höß in Auschwitz, „grausame Dinge von nicht grausamen Menschen gemacht werden“ (Bauman), wenn also Mäßigung dem Wahnsinn gar dient? Ein „selbstdestruktives Zivilisationsmuster“ ist entstanden. Elias liegt endgültig auf dem Kreuz.

Nicht jedoch Engler. Wir müßten es trotzdem versuchen, den „reflexiven Zivilisationsprozeß“ weiterzutreiben, lautet eine Botschaft. Damit weltweite Wirtschaftsverflechtungen und bürokratische Institutionen Moral nicht suspendieren, bedarf es, „um es klipp und klar zu sagen, einer experimentellen Praxis in imaginärer Moral“. Eine modifizierte Fernethik, wie sie Arnold Gehlen beschrieben hatte, also. Ob uns dies gelingen kann, werden wir nur erfahren, wenn wir es versuchen, lockt Engler. Neugier ist nicht das schlechteste Überlebensmotto.

Diese Erkenntnis im Gepäck, ist der Autor zur Stelle, wo immer Standards der zivilen Gesellschaft zu zerbröseln drohen. In den Kapitelüberschriften klingt dies an: Da ist von „halbierten Gewissen“ bei Jugendlichen die Rede, deren Affekte Amok laufen, vom „freudlosen Diskurs“ zunehmender Political correctness, vom „geistigen Spielraum“ westlicher und östlicher Intellektueller, von den „verwirrten Gefühlen“ angesichts sich auflösender Institutionen, von der „ungewollten Moderne“, der Individualisierung in Ost und West.

Mal scharfsinnig abwägend, mal bewußt übers Ziel hinausschießend, fällt er aus rhythmisch elegantem Trab in Schweinsgalopp, verheddert sich übermütig in Metaphern, wenn ein soziologisches Subjekt „mit der Nase auf die Schieflage seiner Kritik“ stürzt und dieselbe dann auch noch rümpft. Doch letztendlich gelingt es Engler, Detailbeobachtungen in große Rahmen zu spannen. Diese Stärke ist auch eine Schwäche. Ein einziges Beispiel muß manchmal schon genügen, um dem Erklärungsmodell Überzeugungskraft zu verleihen. Manches hätte länger beleuchtet werden können. Der Autor jedoch, Meister der kurzen Distanz, ist längst woanders. Frank Sieren

Wolfgang Engler: „Die ungewollte Moderne. Ost-West-Passagen“. edition suhrkamp 1995, 19,80 DM