Die Stadt, der Körper und der Schmerz

Der amerikanische Soziologe Richard Sennett beklagt den Sinnlichkeitsverlust durch den Komfort moderner Städte und beschwört Stadtbilder vergangener Zeiten. Soll Frust zum positiven Element der Stadtplanung werden?  ■ Von Peter Michalzik

Berlin kommt in Richard Sennetts Buch nur einmal ganz am Rande vor. Dabei könnten die Stadt und dieses Buch Bruder und Schwester sein. Wäre „Fleisch und Stein“ von einem Deutschen geschrieben, würde es im letzten Kapitel erzählen, warum Berlin so schön nie mehr wird sein können, wie es einmal war und vielleicht gerade noch ist. Berlin mit seinen Auf-, Um-, Ab- und Durchbrüchen, mit seiner Unabgeschlossenheit, seinem Durcheinander, seiner Widerspenstigkeit und Unvorhersehbarkeit wäre für einen deutschen Sennett zwar nicht gerade das Paradies, so weit geht er dann doch nicht, aber als bestmöglicher aller Vorgärten zu dem von Eden käme es allemal in Frage.

Der Soziologe Sennett lebt in New York/Greenwich Village und ist ein Mann, der sich für sein Leben gern mit anderen austauscht. Die in Greenwich Village, das einmal als der kommunikativste Punkt dieser Erde galt, gemachte Grunderfahrung seines Lebens ist, daß wir bestenfalls koexistieren, nie aber interagieren, was sich Sennett als irgendwie lebendigen, gefühlvollen, sinnlichen Vorgang vorstellt. Er fühlt sich in seinem Kommunikationsbedürfnis in der modernen Welt ziemlich behindert und fragt in „Fleisch und Stein“ zum wiederholten Mal, warum das so ist.

Die Differenz zu anderen, die Austausch erst ermögliche, meint er diesmal, lasse sich nur wahrnehmen, solange wir an uns körperliche Unzulänglichkeit erleben, solange wir aktiv sind und scheitern und nicht in übermächtigem Komfortbedürfnis, egal ob als Autofahrer oder Telekommunizierer, die Welt passiv an uns vorüberziehen lassen. Nur wenn wir uns als mit Schwierigkeiten Beladene, als Entwurzelte erleben, könnten wir zur Sinnlichkeit des Daseins zurückfinden. Sennett will den Frust als positive Kategorie in die Stadtplanung einführen.

„Fleisch und Stein“ heißt das Buch, weil es die Stadt nicht durch die Worte und Ideen, sondern die Selbsterfahrung ihrer Bewohner begreifen will. Sennett interessieren nicht die Planungsvorgaben und Entwürfe, sondern die Daseinserfahrungen, die im Körper stecken, sich aus ihm heraus- und in den Raum hineinbauen. Eine Geschichte der Stadt ist daraus nicht geworden, wie der Klappentext und der Autor selbst behaupten. Das Buch durchstreift zwar chronologisch verschiedene Kristallisationspunkte menschlicher Zusammenrottung, einen kohärenten Faden der Entwicklung versucht es aber erst gar nicht zu zeichnen. Es öffnet vielmehr verschiedene Fenster: auf das Athen des Perikles, das Rom Hadrians, das Paris von 1250, 1500 und der Revolution, das Venedig des Ghettos, das viktorianische London und schließlich das Greenwich Village, das der Autor selbst erlebt. An diesen verschiedenen Orten erzählt Sennett die alte Geschichte vom Sündenfall immer wieder neu.

Sennett schreibt nicht die Geschichte der Stadt, und er spricht auch nicht die großen Probleme der Metropolen an: den Müll, den Verkehr, die Armut, die Verwüstung von Innenstädten und Peripherien gleichermaßen. Sennett sieht auch nicht, daß die Kommunikation längst über andere Kanäle erfolgt als die, die körperliche Präsenz erfordern, vulgo Medien, daß den Prognosen zufolge bald ganz andere Städte die großen Metropolen dieser Welt sein werden. Städte, die die Entwicklung, die Sennett beleuchtet, bestenfalls noch als ferne Erinnerung kennen, nicht aber als mittelalterlichen oder gar antiken Kern in ihrem Zentrum gegenständlich vor Augen haben.

Diese Blindheit ist die Schwäche des Buches, aber sie macht auch seine Schönheit und Stärke aus. Die Stadt ist für Sennett die utopische Idee der europäischen Kultur, eine Vision, die er beschwört. Er vergegenwärtigt dazu Stadtszenen wie ein Maler. Zurückhaltend, aber seiner Kunst bewußt, faßt er Epochenkonflikte in einfachen, eingängigen Tableaus und findet dabei Wesenheiten einer vielleicht gerade untergehenden Kultur – die Ghettoisierung, die gebaute Ewigkeit, die gebaute Stimme.

Am schönsten ist, natürlich, das Kapitel über Athen. Sennett begibt sich mit uns in die Stadt, geht mit uns ins Theater, ins Gymnasium, auf die Agora. Er zeigt, wie die ihren Körper als stolzes Zeichen der Zivilisation begreifenden Athener zwischen zwei Fronten in einen unauflösbaren Widerspruch geraten: Im hitzigen Stimmengewirr der Agora erleben sie sich selbst, ihre Stimme und ihren Körper, aber sie sind verwirrt, im Theater machen sie dagegen die Erfahrung zusammenhängender Rede, aber um den Preis des Selbsterlebens. Dieser Widerspruch habe den Griechen das lebendige urbane Leben ermöglicht, aber auch die Instabilität ihres Systems ausgemacht.

Einen entscheidenden Knackpunkt sieht Sennett in der französischen Revolution. Er zeigt, wie die Revolutionäre daran scheiterten, ein Emblem und eine urbane Form für die im Entstehen begriffene Massengesellschaft zu finden. Am Anfang steht hier nicht ein Mann, sondern Marianne mit ihren prallen Brüsten, Symbol eines lebensstrotzenden, alle versorgenden Staates. Was sich schließlich durchsetzte, war dann aber die entfremdete Tötungsmaschinerie der Guillotine. Die Massen in den hinteren Reihen – und das waren die meisten – bekamen nicht einmal mit, was bei der Hinrichtung in ihrem Namen geschah und gesagt wurde. Im transparenten, freien Raum, den die Revolution in Paris schuf, gelang es nicht, die Menschen in das Geschehen einzubinden.

Ein Gutteil seines Pathos scheint Sennett daraus zu gewinnen, daß dieses Buch ursprünglich ein Projekt der Zusammenarbeit mit Michel Foucault werden sollte. Er gesteht zwar zu, daß dem jungen Foucault sicher nicht gefallen hätte, was er jetzt daraus gemacht hat, aber er scheint zu glauben, daß seine Darstellung die Erfüllung von Foucaults letzten Träumen ist. Foucault kann sich gegen diese Vereinnahmung nicht mehr wehren. Und vielleicht hat Sennett ja auch recht, daß Michel Foucault sich vor seinem Tod von dem Thema der Macht gelöst hat, an dem er sein Leben lang gearbeitet hatte – aber daß er Sennetts Erlösungssehnsucht Widerstand entgegegengesetzt hätte und daß er das Buch methodisch schärfer konturiert hätte, kann wohl als sicher gelten.

Der Berlin Verlag scheint sich jetzt in der Sachbuchabteilung auf die kulinarische Kulturgeschichte zu verlegen. Der Herr Professor zeigt, daß auch er unterhaltsam und vergnüglich (aber eben mit Niveau) parlieren kann. Dazu paßt die nachlässige Präsentation dieses Buchs überhaupt nicht. „Fleisch und Stein“ strotzt vor zum Teil groben Druckfehlern. Beim stolzen Preis von 58 Mark könnte man eigentlich erwarten, daß vor dem Druck jemand die Fahnen noch einmal durchschaut.

Richard Sennett: „Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation“. Aus dem Englischen von Linda Meissner. Berlin Verlag 1995, 523 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 58 DM.