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Die Überlebenden fühlen sich betrogen

Tausende jüdischer Alteigentümer warten immer noch auf die Rückerstattung ihrer Grundstücke. Doch von 33.000 Anträgen sind bislang nur 1.000 Fälle entschieden worden  ■ Von Constanze von Bullion

Simon Bronner ist stocksauer. „Das ist eine Verschwörung“, meint der 67jährige. Das Streitobjekt: ein Grundstück in Friedrichshain. Bronner ist Alteigentümer der Travestraße 1, auf der bis kurz vor Kriegsende ein Wohnhaus stand. Sein Vater mußte es 1936 aufgeben, als die jüdische Familie vor den Nazis floh, 1993 wurde Simon Bronner das leere Grundstück zurückerstattet. Doch davon hat er bis heute nichts. Die Grundschule am Traveplatz soll hier eine Turnhalle bekommen. Geld aber hat die Stadt nicht, und ob der Senat überhaupt kaufen will, ist unklar. Seit über zwei Jahren gammelt der Fall Travestraße in den Schubladen des Bezirksamts Friedrichshain vor sich hin. Kein Einzelfall. Manche Antragsteller sind inzwischen der Meinung, daß im Ostteil der Stadt die Verfahren mit Absicht verschleppt werden.

Über 280.000 Anträge auf Rückübertragung enteigneter Grundstücke, Firmen und Wertgegenstände stauen sich beim Berliner Landesamt zur Regelung offener Vermögensfragen (Larov). Mehr als 33.000 Antragsteller sind Verfolgte des Naziregimes oder deren Erben. Milliardenwerte sollen im Osten Berlins bis zur Jahrtausendwende die Besitzer wechseln. Doch bis dahin, so Larov-Leiter Hugo Holzinger, „hat die Stadt noch einige Nüsse zu knacken“. Verfolgte Alteigentümer, beteuerte er vor einer Woche bei der Rückübertragung der Neuen Synagoge an die Jüdische Gemeinde, „stehen auf unserer Prioritätenliste ganz oben“. Die Ansprüche von Nazi-Opfern, so die letzten Urteile des Bundesverwaltungsgerichts, haben Vorrang vor Investitionsplänen oder Projekten von öffentlichem Interesse, also Schulen oder Kindergärten. Trotzdem wurde bisher nur in knapp 1.000 Fällen jüdischer Altbesitz zurückgegeben.

Oft dauert es Jahre, bis ein Antrag überhaupt bearbeitet wird. Schuld daran ist ein Dschungel juristischer Regelungen, Paragraphen und Klauseln, durch den sich Anwälte und Liegenschaftsämter kämpfen müssen. In vielen Fällen haben sich Straßennamen und Hausnummern geändert, und die Erben wissen nicht genau, wo das Elternhaus stand.

Manchmal gibt es mehrere Antragsteller, die ein Objekt beanspruchen. So hat die „Jewish Conference of Material Claims against Germany“, eine gemeinnützige jüdische „Wiedergutmachungs“-Organisation, in Berlin umfassende Ansprüche auf jüdisches Alteigentum angemeldet – „oft auf gut Glück“, wie Larov-Chef Holzinger bemerkt. Denn meist kann erst nach langwierigem Wühlen in den Grundbüchern geklärt werden, wem ein Grundstück zusteht. Haben die Kinder und Enkel der enteigneten Besitzer fristgerecht einen Antrag gestellt, bekommen sie ihr Eigentum zurück; ist der Termin verpaßt, fällt es der Jewish Conference zu.

„Das ist oft eine Sisyphusarbeit, die Erben zu finden“, erklärt Rechtsanwalt Dr. Gerhard Schreier. In seiner Kanzlei am Alexanderplatz stapeln sich Hunderte von Fällen, die noch nicht abgeschlossen sind. Manchmal werden erst einmal professionelle Erbensucher oder Privatdetekteien beauftragt, die anhand von alten Adreßbüchern, Schiffslisten oder Papieren der Einwanderungsbehörden die Erben aufspüren.

Siebenundzwanzig Emigranten aus Belgien, den USA und Lateinamerika mußten beispielsweise an einen Tisch gebracht werden, um das Haus von Simon Bronners Eltern und Großeltern in der Kaiser- Wilhelm-Straße 32 zurückzuholen. In bester Geschäftslage gleich beim Alexanderplatz, auf halbem Weg zwischen Volksbühne und Marienkirche, hatte Großvater Bronner eine florierende Herrenschneiderei. Im zweiten Stock wohnte die zwölfköpfige Familie, in der Etage darüber war eine große Konfektionswerkstatt. Das übrige Gebäude bestand aus kleinen Läden, einem Restaurant, Wohnungen und Büros.

Am 9. November 1938 stürmten SA-Truppen das Haus, warfen die Möbel aus dem Fenster und zündeten die Wohnung an. Hals über Kopf verließen die Bronners die Stadt, flohen über Belgien nach Frankreich, die Gestapo immer auf den Fersen. In New York gelang der Familie schließlich ein mühsamer Neuanfang. Doch über Heimweh und den Tod der Angehörigen kamen viele der Emigranten kaum hinweg. Neun von zehn Geschwistern hatte Simon Bronners Mutter durch den Holocaust verloren. „Nach dem Krieg“, erinnert Bronner sich heute, „wurde sie nie mehr, wie sie vorher war.“

Die Kaiser- Wilhelm-Straße 32, heute Rosa- Luxemburg- Straße 17, war inzwischen „arisiert“ worden. Der neue Besitzer hatte das Haus zum Schleuderpreis gekauft, in der DDR ließ er es von der Kommunalen Wohnungsverwaltung betreuen. Doch weil „arisiertes“ Eigentum laut Vereinigungsvertrag als „nicht schutzwürdig“ gilt, wurde der Mann entschädigungslos enteignet. „Kein Geschenk für die Erben“, sagt Anwalt Schreier. „Nur ein kleiner Ausgleich für das Unrecht, das man ihnen angetan hat.“

Inzwischen haben die Bronners das von Abgasen geschwärzte Haus an eine Familie aus Westdeutschland verkauft. Die Mieter aus der DDR-Zeit sind fast alle ausgezogen. Modernisierung und Mieterhöhungen hat nur der kleine Laden im Vorderhaus überlebt. Seit fast 30 Jahren verkauft Joachim Nesse hier Trockenhauben, Lockenstäbe und Rasierapparate. Ob das Haus jüdischen Alteignern oder Wessis gehört, ist ihm völlig egal. Für ihn gehören die neuen Eigentümer irgendwie alle in die Kategorie „Junker, die sich jetzt die halbe DDR zurückholen“.

„Alles rote Socken“, kontert Matthias von Birkensee. Eigentlich heißt er Matthias Freiherr Teufel von Birkensee. „Teufel“ und „Freiherr“ hat er inzwischen von der Visitenkarte verbannt. „Geschäftsschädigend“, meint er. Der junge Mann in der eleganten Büroetage Nähe Ku'damm vermakelt rückerstattete Grundstücke. Und den Fall Bronner kennt er seit Jahren. „Dem Mann wird vom Senat übel mitgespielt“, meint Birkensee. Denn was in der Rosa-Luxemburg-Straße relativ schnell geregelt war, droht bei Bronners zweitem zurückerstattetem Grundstück in Friedrichshain vor dem Verwaltungsgericht zu enden. „Mit allen juristischen Tricks und Mitteln“, so der Makler, verzögere das Bezirksamt Friedrichshain seit über zwei Jahren den Verkauf des Grundstücks. Die Schule, die hier einen Anbau plant, habe Bronners Besitz schlicht annektiert.

Im Bezirksamt hält man dagegen. Bronners Kaufpreisforderungen, hieß es im letzten Schreiben, seien „weit überhöht“. Doch ein längst versprochenes Wertgutachten wurde bisher nicht erstellt. Das letzte Angebot der Stadt lag bei 1,4 Millionen Mark. Bronner hat einen Käufer, der ihm 3 Millionen Mark bietet. Auf den Kompromißvorschlag des Alteigners, ein großes Gebäude mit Turnhalle, Büros und Wohnungen zu bauen, reagierte das Bezirksamt gar nicht erst. Anfragen der Presse werden nur widerwillig beantwortet. „Die spielen auf Zeit“, meint der Makler. „Hauptsache, niemand anders kann das Grundstück kaufen.“ Doch solange der Senat nicht entscheidet, können die Brüder Bronner, von denen der älteste schon 75 ist, ihr Erbe nicht antreten.

Privatbesitz kontra öffentliches Interesse, Verfolgte kontra Enteigner, Wessis gegen Ossis oder Junker gegen SED-Seilschaften? Simon Bronner kann das alles nicht mehr hören. „Ich lass' mir das nicht noch mal gefallen“, sagt er. „Nach Nazis und SED ist das de facto die dritte Enteignung.“ Wenn's nach ihm ginge, dann wäre das Grundstück in der Travestraße längst sinnvoll genutzt: durch eine Moschee für die Berliner Türken. Constanze v. Bullion

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