Lockruf der Wildnis Von Karl Winter

Regina ist tierlieb. Da hängt sie zum Beispiel ein kleines Glöckchen an die Wäscheleine auf dem Balkon, weil die Kohlmeisen so gerne damit spielen. Am liebsten morgens um sechs. Nun steht mein Bett allerdings direkt am Fenster zum Balkon, und davor baumelt das Spielzeug. Die ersten Tage wurde ich durchs Gebimmel brutal geweckt, sprang aus dem Bett, rannte zum Telefon, dann zur Haustür und kam nicht dahinter, wer oder was zum Teufel da geklingelt hatte. Inzwischen habe ich mich an den gefiederten Wecker gewöhnt.

Dann entdeckte sie ein Amselnest mit vier Jungen im Essigbaum genau neben dem Balkon. Von da an war der Platz an der Sonne für mich verbotenes Territorium. Reginas Argumente, das Mama Amsel Ruhe braucht, um ihre Brut großzuziehen, ja daß selbst mein Anblick die Alte für immer vertreiben und die Kleinen jämmerlich zu Grunde gehen würden, beeindruckte mich überhaupt nicht. Im Gegenteil, ich zog ernsthaft den Kauf eines Luftgewehrs in Erwägung. Dann geschah die Katastrophe. Ich war gerade dabei, ein Bücherregal möglichst gerade an eine schiefe Altbauwand zu dübeln, als Regina aufgeregt hereingestürmt kam. „Ein Junges ist aus dem Nest gefallen“, japste sie, „was sollen wir nur machen.“

Ich zuckte die Schultern. „Kann man gar nichts machen, der Piepmatz ist Katzenfutter“, antwortete ich nicht sonderlich interessiert. Was mir einen bösen Blick und ein überzeugtes „Den rette ich!“ einbrachte. „Wenn du den Kleinen anfaßt, wird die Mutter sich nicht mehr darum kümmern“, erklärte ich todernst, „sie riecht den Menschen.“ „Ach, ich dachte das gilt nur bei Rehkitzen“, erwiderte sie etwas verunsichert. „Nee nee, das gilt auch für balkonblockierende Nervamseln.“

Fünf Minuten später sah ich sie mit Arbeitshandschuhen und einer Salatschüssel die Treppe runterflitzen. Als sie wieder auftauchte, hockte Baby Amsel in der Salatschüssel, die Regina schön weich mit grüner Holzwolle ausgepolstert hatte. Sie stellte das Ding auf den Balkon und der Terror begann. Mama Amsel flattert laut schimpfend am, über und unter dem Balkon entlang, Baby Amsel stimmte in das Geschrei mit ein. Nachbarn steckten ihre Köpfe aus dem Fenster und fragten sich wohl, welche neuen Foltermethoden und brutalen Tierversuche wir da ausprobierten. Die Situation war unhaltbar. Das sah selbst Regina ein. Entschlossen packte sie Baby Amsel und stopfte es wieder ins Nest zurück. Jetzt war Ruhe. Aber nicht lange. Eine halbe Stunde später hatte Regina wieder die Arbeitshandschuhe an. „Jetzt fehlen drei im Nest“, kreischte sie. Zum Glück kam genau zu diesem Zeitpunkt unser Freund Willy zu Besuch. Regina nahm sich kurz Zeit, ihm das Drama zu schildern. Willy lachte sich scheckig. Als er wieder Luft bekam, erklärte er uns, daß Amseln immer ihre Jungen aus dem Nest werfen, um ihnen auf diesem Weg das Fliegen beizubringen.

Nachdem wir uns ausgiebig über Regina lustig gemacht hatten, setzten wir uns auf den Balkon – auch die vierte Jungamsel bekam inzwischen Flugstunden auf dem Rasen –, kippten ein paar Bierchen und beobachteten Nachbars Katze. Gerade fing es an ein richtig spannender Abend zu werden, da entdeckte Regina das Taubennest...