■ Gerhard Schröder verachtet die Partei und setzt auf „Person“. Aber Napoleon zu spielen löst nichts
: Muß das Politische abgeschafft oder erfunden werden?

Immer häufiger lösen politische Nachrichten bei mir die Zwangsvorstellung aus, von einem zeitgenössischen Napoleon könne für die Mehrheit der Wahlberechtigten etwas Unwiderstehliches ausgehen. Napoleon, der heutige, käme mit einem 1.000-Tage-Programm für den Standort Deutschland. An die Stelle verfaßter Institutionen würde er „Gipfel“ setzen. Dem Volk würde er Interaktionen auf Datenautobahnen versprechen, ein großes innerbetriebliches Vorschlagswesen, um das Unternehmen Deutschland dorthin zu führen, wohin es gehört: an die Spitze.

Gerhard Schröder bemüht sich derzeit mit fast täglichen Interviews um die Planstelle Napoleon. Er setzt offenbar darauf, daß sie demnächst ausgeschrieben wird. Schröder entwickelt kein Programm, er macht nicht einen Vorschlag. Unerbittlich, so verkündet er, sei zu befolgen, was das Reich der Notwendigkeit, die globalisierte Ökonomie von uns fordere: die große Flexibilisierung.

Abgrenzung von der Wirtschaftspolitik Stoibers und Teufels? Diese Frage der Woche-Interviewer gibt Schröder das Stichwort: „Man kann die Absichten zwar noch verschieden aufschreiben, aber man kann moderne Wirtschaftspolitik nicht mehr verschieden praktizieren.“ Schröder proklamiert die Abschaffung von Politik. Wenn Alternativen unmöglich sind, hat sie keinen Raum mehr. Politik lebt von Unterschieden der Interessen, Visionen und Leidenschaften. All dem wird ein Napoleon die bequemsten Plätze versprechen, schließlich könnten wir unter zahllosen Alternativen im virtuellen Leben auswählen. Aber im Kraftzentrum, in der Ökonomie, da gäbe es nur das Notwendige, das eine, das man wohl verfehlen, aber nicht wählen kann. Es gäbe nur richtig und falsch, wie beim Bedienen einer Maschine. Es gibt keine Freiheit. Über richtig und falsch entscheidet derjenige, der das Sagen und die Macht hat. Längst vergessen, daß Macht von Mögen kommt. Macht wird zur Megaprothese sehr bedürftiger Egos, eben der Napoleontypen.

Irgendwie paßt ja das Dementi von der Politik zu den unerträglichen Possen der Akteure. Auf der Vorderbühne knallt und kracht es, wie bei Küppersbusch Bonner Puppen. Und was ist dahinter? Nichts. Die Parteien, selbst die Grünen, beklagen, daß sie kaum Nachwuchs bekommen. Wer in die Politik einsteigen will, suche nicht das Forum für die gemeinsamen Dinge. Aber das ist doch Politik: gemeinsame Regelung gemeinsamer Dinge. Schwächliche Typen, zu wenig souverän, von sich selbst abzusehen, drängeln nach oben. Politikverdrossenheit liegt also nicht an zuviel, sondern an zuwenig Politik. Aber der Verdruß überläßt den Egomanen das Feld. Die Logik der Abwärtsspirale.

Was, wenn die Bundesrepublik in eine Krise gerät, die diesen Namen verdient? Wird sich die Demokratie bewähren, wenn die Börse kracht? Oder werden Politikinszenierungen dann einstürzen wie Kartenhäuser? Ein Politikgau im Westen wie einst im November 1989 der im Osten? Das Spektakel der Statt Partei in Hamburg, deren Gründer, Mini-Napoleon Markus Wegner, vergangene Woche ausgetreten ist, um seinem Ausschluß zuvorzukommen, nimmt das Desaster der Pseudopolitik vorweg. Die Programme der Parteien sind erschöpft, aus ihren Resten nährt sich noch Propaganda, die zu dem einen hilflosen Schlagwort gerinnt: Innovation. Aber Erneuerung kann man nicht beschließen. Nur Menschen mit Phantasie und Mut sind zu ihr fähig. Schröder hat für die Wahrnehmung dieser Konstellation empfindliche Antennen. Seine Konsequenz, nun Persönlichkeit zu markieren, hat leider den Nachteil, daß Persönlichkeit nicht markiert werden kann.

Was also ansteht, ist nichts weniger als die Erfindung des Politischen, wie Hannah Arendt diese menschliche Kunst, Neues anzufangen, beschrieben hat: die Fähigkeit immer wieder Anfänger zu werden, Anfänger auf immer höherem Niveau. Um die Kraft des Anfängers bringt sich allerdings, wer so tut, als sei er schon angezogen auf die Welt gekommen.

„Die Erfindung des Politischen“ fordert auch der Soziologe Ulrich Beck. Er entwirft Konturen einer zweiten Moderne, die den Wahn der Omnipotenz hinter sich gelassen hat. Jenseits des Entweder-Oder-Denkens, so Ulrich Beck, werde die zweite Moderne eine Heimat der Unvollkommenheit und der Politik sein – oder sie wird nicht sein.

Es wird Zeit, daß die Gesellschaft die Abschaffung des Politischen nicht länger hinnimmt, daß sie die Politik nicht den Darstellern mit Napoleontik überläßt und sich nicht damit begnügt, abends am TV die Simulierung von Politik durch Robin-Hood-Aktivisten auf den Weltmeeren zu bestaunen.

Politik allerdings kann sich nicht mehr als Verwirklichung von Heilsversprechen verstehen. Sie muß irdisch werden. Statt Himmel auf Erden, Erde auf Erden. Die säkularen Religionen der Moderne haben in diesseitigen Paradiesen die Abschaffung des Mangels in Aussicht gestellt. Ihre Botschaft heißt immer noch: Es kann euch nichts passieren. Künftige Politik wird sich nur als Kritik des Perfektionismus behaupten können. Einzig eine Moral der Sterblichen könnte die Show der Charaktermasken lächerlich machen und hätte die Kraft, sie abzusetzen. Gibt es dafür Chancen? Es tut sich was, ausgerechnet dort, wo sich der kleine Mann aus Hannover mit der großen Wirtschaftskompetenz zuständig fühlt, in Unternehmen, die anfangen, sich als lernende Organisationen zu begreifen. Als Mittagsmeditation für ihr Management geben sie die Frage aus: „Hast du heute schon einen Fehler gemacht?“

Dort werden nicht mehr im alttestamentarischen Stil der ersten Moderne Fehler verteufelt. Fehler werden als Eintragung im Paß für Grenzgänger gelesen. Wer keine Fehler macht, der gehört in die Welt der Roboter und wird durch diese ersetzt werden. Die anderen, die möglichst nicht immer die gleichen, sondern neue Fehler machen sollen, sie stellen einander die alte Frage, mit der Politik in der Polis begann: „Wer bist du?“ Die Napoleons aus der fertigen Welt der untergehenden Eisenzeit allerdings bleiben auf die Frage stumm, sie können mit ihr nichts anfangen. Reinhard Kahl