Vom „Nein“ in der Liebe

■ Schwierige Kinder, erschöpfte GrundschullehrerInnen – irgendwas läuft schief. Kümmern sich die LehrerInnen zu wenig? Im Gegenteil, meint ein Psychologe.

Frau Müller hat ihren GrundschülerInnen den „Zehnerübergang“ erklärt, einige Aufgaben an der Tafel vorgerechnet, etwa „11 minus 3“, nun sagt sie freundlich: „So, ich verteile jetzt Arbeitszettel, Ihr habt 20 Minuten Zeit, guckt mal, wie weit Ihr kommt.“ Heult der Boris auf: „Och nöö, ich hab das nicht verstanden, ich kann das nicht, können Sie mir nicht nochmal...?“ Frau Müller seufzt ein wenig, denn immer drängt sich Boris nach vorn, immer will er alle Aufmerksamkeit haben. Schließlich setzt sie sich doch zu Boris, erklärt ihm die Aufgabe viermal, siebenmal, zwölfmal... Abends ist sie völlig erschöpft, klagt über ihre „schlechte“ Klasse und daß sie diesmal besonders viele „schwierige Schüler“ habe...

Wolfgang Götz, Psychologe am Förderzentrum Burgdamm, wundert sich gar nicht über diese Erschöpfung. Sicher, sagt er, die Startbedingungen der Kinder klaffen immer weiter auseinander, und tatsächlich gibt es „schwierige“ Kinder, in manchen Stadtteilen Bremens bis zu 15 Prozent eines Jahrgangs. Aber diesen Kindern hinterher zu laufen, geradezu grenzenlos auf sie einzugehen – „das ist weder durchhaltbar für die LehrerInnen noch hilfreich für die SchülerInnen.“ Götz hat einen anderen Ansatz, er nennt ihn „Das Nein in der Liebe“.

Nehmen wir Boris. Seine Eltern sind überbesorgt und immer auf dem Sprung, Boris zu retten. Schließlich soll Boris „es mal besser haben als wir“. Sie glauben nicht, daß Boris auch mal einen Schmerz abkann, einen Mißerfolg. Konsequenz: Boris rennt bei jedem Puff zur Lehrerin, fühlt sich von jeder Aufgabe überfordert, schmeißt sich in Verzweiflung auf den Fußboden, wenn er was nicht sofort versteht, klagt sofortige Hilfe ein. Mit anderen Worten: Die Sorge der Eltern, daß das Kind was nicht schafft, führt bei Boris zu mangelndem Selbstvertrauen. Frau Müller wiederholt mit ihrer Extra-Betreuung diese Übersorge der Eltern, erklärt der Schulpsychologe Götz. Boris wird dadurch immer noch unselbständiger, immer noch hilfsbedürftiger, noch wehleidiger, noch „schwerer“. Wolfgang Götz trocken: „Aber da sind GrundschullehrerInnen ungeheuer leistungsfähig, im Tragen.“ Bis sie selbst zusammenbrechen...

„Nein in der Liebe“ hieße im Fall Boris/ Frau Müller: Die Lehrerin setzt dem Kind eine Grenze, läßt es auch mal allein – allerdings im Vertrauen auf die Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes. Konkret könnte sie sagen: „Nein, Boris, keine weiteren Erklärungen.“ Und wenn er zetert und klagt? „Boris, das ist nicht so schlimm, wenn du was nicht kannst, probier halt mal, sorg für dich.“

Nun sind die 20 Minuten selbständigen Rechnens vorbei, die Kinder kommen zusammen, zeigen, wie sie mit den Matheaufgaben zurechtgekommen sind und wie sie für sich gesorgt haben, falls sie nicht alles verstanden haben. Boris' Blatt ist weiß geblieben. „Wo hast du dir Hilfe geholt“, könnte die Lehrerin fragen. Wie, Hilfe ... sowas ist Boris völlig neu. „Hat vielleicht einer einen Tip für Boris“, fragt die Lehrerin in die Runde. „Naja“, meint Tamara, „der Boris hätte doch wenigstens die Aufgaben abschreiben können – oder mich fragen.“

Was Wolfgang Götz vorschlägt, ist kein weiterer Trick im Umgang mit „schwierigen“ SchülerInnen, auch keine Methode, sondern eher ein Ansatz: Nein sagen, aber im Vertrauen auf die Kinder. Das bedeute natürlich, so Götz, daß LehrerInnen sich fragen, ob sie selbst dieses Vertrauen in Menschen überhaupt haben. Und zum Nein-Sagen gehört auch eine Portion Konfliktbereitschaft – geradezu Lust am Konflikt, und damit am Leben. Wer jedoch die SchülerInnen unter Druck setzt (“Du machst das jetzt“) oder sie überversorgt, wolle Konflikten möglichst aus dem Weg gehen, so Götz.

Was aber, wenn ein Kind wie Eva mault „Ich kann das nicht,“ ihre Bücher vom Tisch fegt, aufsteht und gehen will? Ein Kind, das nicht zuviel umsorgt wird zuhause, sondern zuwenig, und aus diesem Grund kein Selbstvertrauen hat. Kinder wie Eva machen die zweite große Gruppe der „Schwierigen“ aus. Das sind Kinder aus „sozial belasteten Familien“, Familien also, die sehr unter Druck stehen und diesen Druck an die Kinder weitergeben. Wer aber nie in seinem Leben „mal voll dran war“, kann auch die Einschränkungen der Schule nicht ertragen: mal was nicht zu verstehen, mal nicht „dran“ zu sein.

Doch auch für Eva sollte das „Nein in der Liebe“ gelten, meint Wolfgang Götz: Die Lehrerin kann sich nicht pausenlos um Eva kümmern, Eva muß auch für sich selbst sorgen, also zum Beispiel andere Kinder um Rat fragen. Dafür darf sie endlich mal in ihrem Leben Fehler machen – ohne eins an die Ohren zu kriegen. Das ist ein Lernprozeß. Für Eva wie für Frau Müller. Götz: „Lernen muß man lernen, dazu gehört auch das Aushalten von Löchern.“ Und die Devise: Was zählt, ist der Prozeß der Auseinandersetzung, nicht das Ergebnis, also die gelöste Aufgabe. cis

* Namen von Lehrerin/SchülerInnen von der Red. geändert.