■ Im Wortlaut
: Die Lüge, die sich Gesellschaft nennt

Der 24jährige, der aus Angst vor der Bundeswehr keine Meldeadresse hat und seinen Namen verschweigt, macht eigentlich nichts. Er ist in „Wartestellung“. Seit einem Jahr lebt er vom Verkauf von Haschischpfeifen. Wenn er Lust hat, klimpert er auf seiner Gitarre. Ob Haustiere oder Zimmerpflanzen: alles, wofür man Verantwortung übernehmen müßte, lehnt er ab. Er bezeichnet sich als Anarchist.

Ich bin mit meinem Leben nicht ganz zufrieden. Es könnte noch mehr passieren. Das mit dem Pfeifenverkaufen mache ich nur zum Überbrücken. Das ist total einfach. Ich gehe dann los, wenn ich Geld brauche, meistens am Wochenende. Insofern ist es eine selbstbestimmte Arbeit. Ich bin abhängig von Konsumenten, die Pfeifen brauchen. Aber ich habe keine feste Zeiteinteilung, keinen Chef. Der Job besteht hauptsächlich aus Kommunikation. Kurze Sprüche, kleine Witze. Ich habe einige nette Leute kennengelernt, Hunderte Biere ausgegeben gekriegt, viele Lebensstories gehört.

Bisher habe ich es vermeiden können, normale Lohnarbeit zu machen. Viele Jobs sind Anscheißerjobs. Ich bin niemand, der Leute in der U-Bahn rausholt und ihnen sechzig Mark aus der Tasche zieht. Ich klingle nicht an Haustüren und frage, ob sie ihre Fernsehgebühren bezahlt haben. Ich bin auch kein Versicherungsarschloch. Ich würde mir wünschen, daß sich viel mehr Leute vor solchen Verantwortungen drücken, die keine sind.

Ein anderes Leben, als ich jetzt führe, ist einfach langweilig. Jetzt bin ich absolut mobil und flexibel. Diese Flexibilität kann natürlich, wenn man nicht aufpaßt, in Lethargie ausarten. Ich habe sehr viel Zeit, Leute zu treffen, und bin nicht drauf angewiesen, am Wochenende künstlich Freundschaften zu pflegen. Wenn dann noch etwas Geld da ist, bin ich eigentlich schon sehr zufrieden. Daß ich nicht krankenversichert bin und deshalb aufpassen muß, daß mir keiner die Zähne rausschlägt, wird dadurch komplett aufgewogen.

Ich bin ein klassischer Drop- out. Mein Abitur habe ich nicht gemacht, ich habe ein Jahr vorher aufgehört. Eine Lehre habe ich auch nicht gemacht. Ein Jahr lang habe ich mal halbtags in einem Schülerladen gearbeitet.

Ich habe noch nicht resigniert. Aber wir leben doch alle in einer großen Lüge, die sich Gesellschaft nennt. Ich entziehe mich den verschiedensten Perversitäten dieser Gesellschaft. Das ist eine Energie, die wenige Leute haben. Derzeit bin ich lethargisch abwartend. Das ist die Realität. Soll ich an die Zirkusparade glauben, die sich Wahlen nennt? Soll ich meinen Vermieter lernen zu lieben? Das Wirkungsspektrum engt sich eher ein, als daß es sich ausweitet. Blablub. Ich habe einfach Angst vor regelmäßiger Beschäftigung mit langweiligen Leuten, blöder Routine, konsumorientiertem Lebensstil und drei Wochen Urlaub im Jahr. Schlichtweg vor Spießertum.

Letztendlich habe ich es immer geschafft, unter den merkwürdigsten Bedingungen, wohlgemerkt ehrlicher Art, zu überleben. Es ist schwer möglich, wirklich ein interessantes Leben zu führen. Ich schätze mal, achtzig Prozent der Menschen sind schlichtweg unglücklich. Mit angenehmen Leuten und interessanter Musik auf ein Niveau kommen, wo ich auch von leben kann, ohne jeden Pfennig rumzudrehen und durch die Gegend zu fahren, dann hätte ich's geschafft. Andere Alternativen habe ich nicht anzubieten. Ich bin doch kein Guru oder Missionar.

Ich übe jeden Tag zwei, drei Stunden auf meiner Gitarre. Es kann auch mal sein, daß ich zwei, drei Wochen nichts mache. Ich schlafe eben gerne bis zwölf Uhr. Konkret ist es schwer zu sagen, was für mich das Leben lebenswert macht. Es ist eine Summe von vielen Einzelfaktoren. Ich habe das noch nicht herausgefunden. Es geht um eine halbwegs sinnvolle kreative Beschäftigung in eigener Regie. So was will geplant sein.

Ein Großteil meines Lebens könnte aus Reisen bestehen, kombiniert mit musikalischen Aktionen. Der andere Teil ist sicherlich, noch das ein oder andere Buch zu lesen. Mir wäre es recht, wenn viel mehr Leute weniger tun würden. Das würde der Welt insgesamt mehr nutzen. Aufgeschrieben und fotografiert

von Barbara Bollwahn

wird fortgesetzt