Der homosexuelle Mann ... Von Elmar Kraushaar

... steht gerne an der Front: ganz zivil, eher lässig und immer lächelnd an der Verkaufsfront. Sofern die Gemeinschaft der Eigenen bei der hohen Dunkelziffer repräsentativ überhaupt zu fassen ist, ergeben Umfragen stets das gleiche Bild: Ein erstaunlich hoher Anteil schwuler Männer verdingt sich im Dienstleistungsgewerbe. Als Frisör oder an der Bar, am Tresen oder als Krankenpfleger, als Steward oder im Außendienst, immer wendig und zuvorkommend, immer mobil und hilfsbereit bewährt er sich im permanenten Nahkampf mit ständig wechselnden Personen. So als ob es eine direkte Linie gäbe zur angeborenen Promiskuität im Sexuellen, die auch darauf baut, daß die Partner austauschbar bleiben, anonym und immer auf Distanz.

Einer der vielen idealen Arbeitsplätze für Schwule ist der beim Herrenausstatter. Den ganzen Tag umgeben von schönen Stoffen, hohen Spiegeln und schmeichelndem Licht, kommen Männer aller Sorten hierher, um sich völlig hilflos in die Hände eines professionellen Einkleiders zu begeben. In dieser Position fügt sich der Sinn für das Schöne auf wunderbare Weise zusammen mit dem Interesse am männlichen Körper.

Unlängst vertraute ich mich der kundigen Beratung eines solchen Herren an, der nur deswegen einer ist, weil unsere Zivilisation noch immer die Kategorie Dame nur biologisch definiert erlaubt. Er kam auf mich zu, nicht ohne noch einmal seine Frisur – eine barocke Komposition in Taft – mit beiden Händen zu richten, und schenkte mir alle Aufmerksamkeit der Welt. Eine Hose sollte es sein, schwarz und etwas weiter im Schnitt. Mein guide de mode verdrehte entsetzt die Augen und skandierte in diesem besonderen Sprachgestus, der in Modulation und Tonlage nur dem dritten Geschlecht eigen ist: „Um Gottes willen, das ist vorbei. Das waren die achtziger Jahre!“ Und nur ein Rest Contenance hielt ihn davon ab, mich „Schätzchen“ oder „Meine Liebe“ zu nennen. „Wir sind in den Neunzigern! Schauen Sie“, dabei hob er sein Jackett und fuhr sich mit beiden Händen genüßlich über Po und Bauch: „Eng, ganz eng muß die Hose anliegen in dieser Saison!“ Er hatte mich an der Leine.

Der Rest war ein Kinderspiel. Ein Hemd nach dem anderen zauberte er aus dem Regal: „Sie werden fabelhaft darin aussehen!“ Ein Pullover kam dazu und eine Weste: „Und wenn Sie dazu das Hemd über der Hose tragen, sind Sie immer und überall korrekt angezogen.“ Schließlich trat er ganz nah an mich heran, senkte seine Stimme und schenkte mir einen Verschwörerblick, um mir das letzte Geheimnis der Menschheitsgeschichte anzuvertrauen: „Vergessen Sie nie, ein schwarzes T-Shirt darunter zu tragen. Nur schwarz!“

Ich war entlassen und trug viel mehr davon, als ich hinzugeben bereit war. Zu Hause angekommen, stürzte ich mich auf die materialistische Analyse der „kollektiven Berufsbiographie“ des „gewöhnlichen Homosexuellen“ von Dannecker/Reiche: „Charme, Gefälligkeit, Nettigkeit usw. sind die Mittel, mit denen die Homosexuellen in der Welt der Normalen überleben und reüssieren.“ Mein Verkäufer hatte reüssiert, und ich beneidete ihn darum, daß er nie Gefahr laufen wird, als Heterosexueller gesehen zu werden.