Legende mit braunen Flecken

Heute feiert die Firma Fichtel & Sachs ihren hundertsten Geburtstag. Doch die Firmensaga verschweigt die Zeit des Nationalsozialismus  ■ Von Hans-Joachim Zierke

Der Festakt findet im Rahmen der diesjährigen Fahrradmesse „Intercycle“ in Köln statt. Grund zum Feiern hat die Firma Fichtel & Sachs ohne Zweifel. Sie ist in diesem Jahr hundert Jahre alt geworden, in denen sie die Geschichte des Fahrrades mit schrieb. In Schweinfurt entstand eines der langlebigsten Gebrauchsgüter des Industriezeitalters: Die Rücktritt-Fahrradnabe „Torpedo“ wurde von 1903 bis in die neunziger Jahre hinein fast unverändert produziert, und manches Exemplar hielt auch mal dreißig Jahre durch.

Der Firmengründer Ernst Sachs war ein genialer Erfinder, und die offiziöse Firmengeschichte, die 1961 erschien, ist voller Anekdoten. Leider stören ein paar Lücken sehr. Das von Ernst Bäumler verfaßte Werk erweckt den Eindruck, als habe Willi Sachs, der Nachfolger des Gründers, zwischen 1933 und 1945 das Firmengelände kaum verlassen. Wenn aber die Frankfurter Allgemeine Zeitung 1958 mit gewißem Recht über ihn schrieb: „Was Fichtel & Sachs heute ist, verdankt das Werk der Weitsicht dieses großen Unternehmers“, dann muß mehr geschehen sein. Als Willi Sachs die Firma 1932 übernahm, war sie durch die Weltwirtschaftskrise schwer angeschlagen. Dann aber ging es voran. Zwischen 1932 und 1944 stieg die Zahl der Beschäftigten von 3.000 auf 7.100. Ausgelagerte Betriebsteile sind darin wahrscheinlich nicht enthalten – sie beschäftigten Zwangsarbeiterinnen.

Bereits im Sommer 1933 gelang es Willi Sachs, sich richtig zu positionieren. Er trat von der SA zur SS über. Außerdem entwickelte er eine bemerkenswerte Freigebigkeit. Der Vorstandsvorsitzende der IG Farben sammelte für das „Haus der Deutschen Kunst“, ein Lieblingsprojekt des Kunstmalers Hitler, der dort die „wahre“ und „echte“ Heldenkunst zeigen wollte. In der Spenderliste für dieses zwei Millionen Reichsmark teure Geschenk eines fortan sehr bedeutenden Zirkels von Industriellen findet sich auch der Name Willi Sachs. Der genaue Betrag seiner Spende läßt sich schwer feststellen. Die Akten des „Hauses der Deutschen Kunst“ wurden 1947 auf Anordnung des Verwalters Aloys Ade fast komplett vernichtet.

Sicher ist hingegen, daß Sachs in der SS schnell aufstieg. Beförderungen sind 1934 und 1935 nachweisbar, am 13. März 1936 hatte er es geschafft: Es wurde in den Stab des Reichsführers SS Heinrich Himmler berufen. Aber Sachs verfolgte auch noch einen zweiten Aufstiegsweg: Er ließ sich auch in den Reichsjagdrat aufnehmen. Um den waidgerechten Abschuß von Zwölfendern ging es ihm weniger, doch die Ratsmitglieder wurden vom Reichsjägermeister Hermann Göring persönlich berufen.

Damit hatte sich der Industrielle einen hervorragenden, informellen Zugang zu den wirtschaftlichen Entscheidungen des Nazi-Regimes verschafft. Allerdings verblaßte die Bedeutung Görings nach der verlorenen Luftschlacht um England. Bis dahin hatte sich die Industrie noch wenig verändert. Erst 1941 wurde sie für die Kriegsproduktion umstrukturiert. Um Rüstung schneller voranzutreiben, wurden Entscheidungen fortan verstärkt an die Wirtschaft delegiert, wobei politisch bewährte Personen mit hohem technischen Fachwissen die Koordinierungsaufgaben übernehmen sollten. Einer dieser Wehrwirtschaftsführer hieß Willi Sachs.

Die Firma prosperierte selbst unter extrem ungünstigen Bedingungen. Die US Army Airforce hatte Schweinfurt 1943 wegen der Kugellagerindustrie, die dort konzentriert war, zum Hauptangriffsziel erkoren. Ein großer Teil der Sachs-Werke aber wurde in einen Druckereibetrieb in Reichenbach (Vogtland) verlagert, Sachs hatte für diesen Schachzug sogar einen Führerbefehl erwirkt. Produziert wurde in Reichenbach fast ausschließlich mit Zwangsarbeitern. Eine vierstellige Zahl vor allem von Frauen aus der Ukraine waren in einem heute in Reichenbach völlig unbekannten Barackenlager vor der Stadt untergebracht, und vom Reichenbacher Betriebsleiter absichtlich unterernährt gehalten.

Ging es um die Zuteilung von Zwangsarbeitern, waren gute Kontakte zur SS nützlich. Während Sachs nach seiner Ernennung in den Stab des Reichsführers 1936 dort keine weitere Karriere mehr gemacht hatte, bemühte er sich 1943 erfolgreich um seine Beförderung zum Obersturmbannführer. Die Verlagerung der Sachs-Produktionsanlagen war ein voller Erfolg. Wo die Panzerkupplungen der Wehrmacht herkamen, scheint der alliierten Aufklärung völlig verborgen geblieben zu sein. Bis Kriegsende gab es in Reichenbach nur einen einzigen Luftangriff, ausgelöst durch die Ad-hoc-Entscheidung eines Geschwaderführers der USAAF wegen schlechter Bedingungen über dem eigentlichen Angriffsziel.

Als großer Nachteil allerdings entpuppte sich der Standort nach Kriegsende. Noch unter amerikanischer Verwaltung hatte der neugebildete Ortsausschuß den Sachs- Betrieb wegen führender Tätigkeit des Inhabers für das Nazi-Regime zur Enteignung vorgesehen. Endgültig verloren waren die hochmodernen Maschinen, nachdem Reichenbach dem Sowjetischen Sektor zugeschlagen wurde und Sachs nach dem Befehl 124 der sowjetischen Militäradministration als Kriegsverbrecher enteignet wurde. Auch die amerikanische Militärverwaltung nahm ihn als führenden Nazi in Haft. Frei kam er erst, nachdem die „Denacification Branch“ in der US-Militärverwaltung ihren Einfluß weitgehend verloren hatte.

Schon 1948 waren im Schweinfurter Werk die letzten Spuren des Krieges beiseite geräumt. Zur selben Zeit wurden die letzten „displaced persons“, die ukrainischen Zwangsarbeiterinnen, anscheinend nach einem Brand im Barackenlager vor Reichenbach, nach Osten abtransportiert. Ihr weiteres Schicksal ist unbekannt.