Ein Platz an den Schalthebeln Europas

■ Rußlands Urängste bestimmen die Ablehnung einer Nato-Osterweiterung

Die Warnung war an Deutlichkeit kaum zu überbieten. Sollte die Nato wie geplant nach Osten erweitert werden, so der russische Präsident Jelzin letzte Woche, so bestünde die Gefahr, daß Europa wieder in zwei Blöcke zerfalle und zum Kriegsschauplatz werde. Westliche Kommentatoren und Politiker versuchten sogleich, Jelzins Äußerungen mit dem Hinweis auf den beginnenden russischen Wahlkampf herunterzuspielen. Wohl wahr. Doch was steckt dahinter, daß Rußland sich mit Händen und Füßen gegen die geplante Nato-Osterweiterung wehrt?

Grob gesagt hat man es in Rußland in dieser Frage mit zwei Urängsten zu tun: der Angst, vom Westen nicht ernst genommen und ausgegrenzt zu werden, und der Angst vor Isolation. Der russische Durchschnittsbürger dürfte sich um die Nato-Erweiterung derzeit wenig kümmern, da er mit den Dingen des täglichen Lebens wie Einkommens- und Arbeitsplatzsicherung beschäftigt ist. Doch da die Nato – hier hat die sowjetische Propaganda ihre Wirkung nicht verfehlt – ausschließlich als Instrument des Kalten Kriegs wahrgenommen wird, wird ihre mögliche Erweiterung nach Osten als Bedrohung gedeutet.

In Rußland war man nach der deutschen Vereinigung und dem „Zwei-plus-vier“-Vertrag davon ausgegangen, daß damit die letzte Nato-Erweiterung festgeschrieben würde. Denn dieser Vertrag erlaubte zwar die Nato-Einbindung auch des vereinigten Deutschland, legte jedoch fest, daß ausländische Truppen und damit auch Kernwaffen nicht auf Ex-DDR-Gebiet verlegt werden dürfen. Somit schließt dieser Vertrag völkerrechtlich eine Nato-Osterweiterung nicht aus – dies wird auch von russischer Seite mittlerweile zugegeben –, aber das politische Verständnis dieses Abkommens war doch immer, daß die Nato darüber hinaus nicht nach Osten vorrücken würde. Daher sahen sich nicht wenige Russen nun getäuscht.

Das mögliche Vorrücken der Altantischen Allianz an die Grenzen Rußlands wird vor allem von dessen Militärs als eine mögliche konkrete militärische Bedrohung betrachtet. Sie verweisen auf ein zahlenmäßiges Übergewicht der Nato bei konventionellen Waffen von etwa 3:1, bei gleichzeitiger qualitativer Überlegenheit des Westens. Außerdem fürchten sie, die Nato könnte über kurz oder lang Kernwaffen auf vorgeschobenen Positionen etwa in Polen stationieren. Sollte sich ein solches Szenario bewahrheiten, müßte Rußland – so dessen Militärs – darauf entsprechend reagieren, und zwar mit der Aufkündigung des Vertrages zur Begrenzung konventioneller Waffen vom Atlantik bis zum Ural (KSE); der möglichen Modernisierung und Vornestationierung eigener Kernwaffen; der Umwandlung der GUS in ein von Rußland geführtes Militärbündnis; und schließlich dem Versuch, darüber hinaus China als militärischen Verbündeten zu gewinnen.

In der politischen Sphäre wird die Diskussion weniger aufgeregt geführt. Auffällig ist aber, daß eigentlich alle politischen Kräfte, die doch normalerweise in fast jeder Frage miteinander im Streit liegen, einhellig eine Nato-Erweiterung ablehnen, zumindest insoweit sie sie relativ schnell erfolgen sollte. Russische Demokraten sehen zwar in der Nato ein stabilisierendes Element für Westeuropa und schätzen die Nato nicht als aggressiv ein, lehnen eine baldige Nato- Osterweiterung jedoch ab, weil sie sich bewußt sind, daß die Demokratie in ihrem Land nur dann eine Chance hat, wenn Rußland mit dem Westen kooperiert. Eine Nato-Erweiterung könnte aber das mühsam zu knüpfende Band mit dem Westen zerreißen und denjenigen Auftrieb geben, die ohnehin der Auffassung sind, das westliche Demokratiemodell sei Rußland wesensfremd. Sie plädieren schon länger dafür, man solle sich auf Rußland als Großmacht besinnen und sich ansonsten nach Asien orientieren.

Tatsächlich fällt auf, daß die nationalistischen Parteien und Bewegungen Rußlands zwar die Nato- Erweiterung ablehnen, sich aber dazu relativ ruhig verhalten. Sie meinen wohl, daß eine Nato-Erweiterung ihnen nur in die Hände spielen würde. Dann könnten sie den Westen als Betrüger brandmarken und die Gefahr eines neuen US-Imperialismus an die Wand malen.

Worum es bei den akzeptierten Vorschlägen einer Ausweitung der Europäischen Union und der Stärkung und Ausstattung der OSZE (früher KSZE) mit einem Sicherheitsrat nach dem Vorbild der UN geht, ist die Schaffung eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems, in dem Rußland einen ihm gemäßen Platz einnehmen kann. Aber daß die Nato die führende sicherheitspolitische Institution in Europa sein soll, wo sie doch auf jeden Fall Rußland ausschließt, mag auch dem wohlwollendsten Westler unter der russischen Intelligenz nicht ganz einleuchten. Irina Busygina, Oliver Thränert