Glasbruch im Theater

■ Vor dem Waldau-Saisonauftakt: Drama hinter den Kulissen

Erster Akt. Mitte Mai; kleiner Saal des Ernst-Waldau-Theaters; die Presse schart sich um den Intendanten. Michael Derda, eine erfolgreiche Spielzeit im Rücken („92 Prozent Platzausnutzung!“), kündigt den Spielplan 95/95 an. Zum Auftakt was Aufrüttelndes: Tennessee Williams, aber auf Platt: „De Glasmenagerie“. Warum nicht, das gebe es doch auch auf finnisch. Noch toller: Ein emigrierter Starregisseur aus der GUS soll Regie führen. Derda will dem in Worpswede lebenden Mac Bekuv seine erste Chance im Westen geben.

Zweiter Akt. Mitte August; Büro des Intendanten. Bekuv und Derda im Gespräch. Die Proben laufen bestens; Bekuv wünscht allerdings, seinen eigenen Bühnenbildner aus Petersburg einfliegen zu können. Außerdem müsse die Bühne mittels Podesten um 20 Zentimeter erhöht werden; die Inszenierung brauche es so. Derda schränkt ein: „Das ist technisch für dieses Theater nicht machbar“. Parallel nämlich probt Derda schon das nächste Stück des Spielplans, bei dem er selbst Regie führt. Bekuv lenkt ein.

Dritter Akt. Anfang September; große Bühne des Hauses. Das ganze Team rackert wie verrückt; zehn Stunden Probe am Tag sind laut Spielplan vorgesehen. Derda wünscht („auf Wunsch der Schauspieler“), einen Probedurchlauf zu sehen – die Premiere naht. Bekuv spürt bereits „Spannungen mit dem Intendanten“, sagt dessen Rechtsanwalt Harjehüsen, der daraufhin die Probe begleitet. Derda findet alles „ganz vorzüglich“. Derweil will er erfahren haben, daß es im Ensemble grummelt: Bekuv habe, weil das Bühnenbild doch nicht seinen Wünschen entspreche, mehrmals die Probe verlassen „und die Schauspieler im Regen stehen lassen“. Bekuv hingegen meint, daß „die Schauspieler sehr gern mit mir arbeiten wollen“.

Bekuv ruft inzwischen bei der Zeitschrift „Prinz“ an, um zu erfragen, ob er sich im Falle einer Auseinandersetzung mit Derda an die Presse wenden könne. Auf Umwegen kommt dies Derda zu Ohren. In seinen Augen ein Grund für eine fristlose Kündigung: Paragraf 4 des Regievertrages besagt, daß „öffentliche Mitteilungen (...) einzig und allein dem Theater vorbehalten sind“.

Vierter Akt. Bekuv erhält, zwei Tage nach dem Probedurchlauf, die Kündigung. Dennoch erscheint er im Theater, will die Arbeit fortsetzen. Doch ein Gespräch zwischen Intendant und Regisseur kommt nicht zustande; Anschuldigungen fliegen in beiden Richtungen. Der Hausverwalter und Bekuv rufen beide die Polizei, um zu klären, ob gar „Hausfriedensbruch“ oder was auch immer vorliege. Die Ordnungshüter kommen und gehen auch gleich wieder, beschwichtigt u.a. durch Rechtsanwalt Harjehüsen. Derda will die Regie nun eigenhändig fortsetzen. „Geistiger Diebstahl“, sagt der gefeuerte Regisseur. Der bekommt noch die Gage ausgezahlt, aber die weitere Entwicklung des Stücks geht ohne ihn vonstatten. Derda selbst weist den Diebstahlsvorwurf zurück, er habe doch „selbst ein Riesenstück am Hals“, Titel: „Der nackte Wahnsinn“.

Schlußakt: Heute abend, 20 Uhr, Premiere im Waldau-Theater – ohne den Regisseur. Ein Nachspiel vor Gericht ist nicht ausgeschlossen. tw