„I'm sorry“ – „I'm not“

Von Freakshow keine Spur: Die Londoner Graeae Company im Tempodrom – eine vorbildhafte Gruppe körperbehinderter Schauspieler  ■ Von Gerd Hartmann

Wenn es um Kunst von Behinderten geht, hageln die Klischees. Die einen vermuten grob kaschierte Therapie, während die anderen die Authentizität des Ausdrucks feiern. Zum Beweis, daß behinderte Künstler als Ausstellungsstücke mißbraucht werden, wird einerseits jene Definition bemüht, die besagt, daß Kunst nur dann als solche gelten darf, wenn sie ein bewußter schöpferischer Akt ist.

Die Gegenseite neigt – genauso übertrieben – dazu, jede schwerverständliche Äußerung als Zeichen unverstellter Kreativität zu werten. Hinter beiden Positionen steckt Unsicherheit gegenüber dem Fremden, das im Sozialstaat normalerweise unsichtbar in der Betreuungsecke existiert.

Doch Initiativen, in denen behinderte Künstler arbeiten, drängen behutsam, aber unübersehbar an die Öffentlichkeit. Gerade im Theaterbereich gibt es in Europa inzwischen mehr als nur eine Handvoll Gruppen, die um Professionalisierung kämpfen. Zwei von ihnen – Thikwà und RambaZamba vom Sonnenuhr-Verein – sind in Berlin beheimatet, eine dritte gerade hier zu Gast: die Londoner Graeae Theatre Company.

Die nach den drei Erinnyen- Schwestern der griechischen Mythologie, die von Perseus mit nur einem Auge und einem Zahn in die Dunkelheit verbannt wurden, benannte und 1980 gegründete Truppe ist eine der ältesten und profiliertesten Europas. Mit ihrer Version von Alfred Jarrys „Ubu“ gibt sie ihr erstes Gastspiel in Deutschland – und stellt damit alle Klischees von Behindertentheater gründlich auf den Kopf.

Ein präziser, greller und poetischer „Ubu“

Obwohl der Klassiker des Absurden heute kaum mehr für einen Skandal taugt wie bei seiner Uraufführung 1896, präsentiert ihn Graeae so anarchisch und rotzfrech wie am ersten Tag.

Im Stil einer krausen Persiflage Shakespearescher Königsdramen führt Jarry vor, was ein entfesselter Kleinbürger anrichten kann, wenn ihn der Machtrausch gepackt hat. Ubu putscht sich, angestachelt von seiner intriganten Frau, auf den polnischen Thron. Als König mordet er, was das Zeug hält, völlert, plündert und fängt Kriege an – eine feige, verfressene, blutrünstig wütende Karikatur des Jahrhundertwende-Bürgertums.

Bei Graeae spielt Jamie Beddard den Ubu. Um seine Hüften schlabbert der aufgeblasene Schlauch eines Lastwagenreifens, an dem eine monströse Hose befestigt ist. Ein Netzhemd läßt den zierlichen Schauspielerkörper durchscheinen. Beddard stakst wie ein gerupfter Pfau über die Bühne, seine Hände fuchteln in abgehackten Gesten durch die Luft. Die Wörter spuckt er aus wie rohe Fleischbrocken.

Ein Ekelpaket, doch gleichzeitig so liebenswert, wie Kasper mit der Fliegenklatsche. Das trifft Jarry auf den Punkt. Ubu Roi ist nicht nur eine rabiate Diktatorenparabel, sondern auch ein Schuljungen-Schabernack. Gerade mal 15 Lenze zählte der junge Alfred, als er seinen Geniestreich aufs Papier rotzte. Genauso behandelt Graeae den Stoff. Es regiert der Trash, es regiert die Anarchie.

Vor dem kreuzhäßlichen Plastikvorhang, der die Vorder- von der Hinterbühne trennt, werden den Ermordeten die (Plastik-)Schwänze abgeschnitten. Ein Fest, das Ubu anläßlich seiner Thronbesteigung gibt, gerät zum Exzeß. Da wichsen und pissen die Feiernden um die Wette. „I'm sorry“, flötet Mutter Ubu (Mandy Colleran) am Ende der wüsten Orgie entschuldigend aus ihrem Rollstuhl ins Publikum. „I'm not“, rülpst der Gatte hinterher.

In einem Holzkubus befindet sich ein Klo, das oft benutzt wird. Und wenn in der Höhle, wo die Ubus nach ihrer Entmachtung vom guten Prinzen Buggerlas zum Kampf gestellt werden, ein Bär auftaucht, dann ist das ein Schauspieler, der einen Mini-Teddy vor sich her trägt. Das ist ebenso witzig wie geschmackssicher geschmacklos – und räumt mit den Tabus auf. Hier setzt niemand auf mitfühlende Betroffenheit, hier stellen Schauspieler ihre Eigenheiten selbstverständlich und selbstbewußt in den Dienst eines Stückes. Von Freakshow keine Spur.

Jarrys Anarcho-Oldtimer fegt in der Graeae-Adaption als groteskes Ideenfeuerwerk über die Bühne. Die Übersetzung in Gebärdensprache und zurück ist kongenial als Spielelement eingebaut. Wenn Charlotte Moulton Thomas in diversen Rollen ihr Gesicht sprechen läßt und präzise ihre Sätze in den Raum malt, entsteht eine Mischung aus Commedia und Poesie, wie sie nur selten zu erleben ist.

„Ubu“ ist Graeaes achte Produktion. Zwei Ensembles touren mittlerweile parallel mit verschiedenen Stücken sieben Monate im Jahr durch die Lande, wobei alle Mitarbeiter voll bezahlt werden. Außer der Bühnenarbeit initiiert Graeae eine Vielzahl weiterer Aktivitäten. Dabei geht es sowohl um Integration als auch um den Kampf für die Gleichberechtigung behinderter Künstler. Workshops in Schulen und eine Jugendtheater-Abteilung gehören genauso zum Programm wie die Initiierung von (Arbeits)begegnungen mit etablierten Theatern.

Das Ziel ist, Arbeitsmöglichkeiten auch über die eigene Gruppe hinaus zu schaffen. Dazu wird mittlerweile eine Art Agentur betrieben, deren Kartei allen behinderten Theaterkünstlern offensteht. Die Erfolge sind beachtlich. Graeae-Mitglieder arbeiten mittlerweile sowohl im Fernsehen als auch an großen Bühnen.

Auch in der Berliner Szene bewegt sich was

Von einer solchen Institutionalisierung sind die Berliner Initiativen noch weit entfernt, was auch an den unterschiedlichen Ansätzen liegt. Graeae arbeitet ausschließlich mit körperbehinderten Künstlern, während sich die Berliner Gruppen auf Menschen mit geistiger Behinderung konzentrieren. Das erfordert natürlich eine gänzlich andere Definition von Professionalität.

In Berlin ist einiges in Bewegung. Im Rahmen eines Modellversuches bietet das Theater Thikwà seit neuestem eine dreijährige Theaterausbildung für geistig und körperlich Behinderte an. Die 1990 gegründete Gruppe, die in ihren vielbeachteten Produktionen eine Begegnungsplattform für Behinderte und Profis schafft, betritt mit dem Werkstattmodell Neuland. Erstmals in Deutschland wird hier eine künstlerische Betätigung als tagesfüllende Arbeit anerkannt und bezahlt – wenn auch nur mit den geringen Sätzen „normaler“ Behinderten-Werkstätten.

Qualifizierung und Integration auf einer ästhetischen Ebene lautet das Ziel, was auch eine Arbeitsqualifizierung mit einschließt. „Auch diese Menschen mit ihren spezifischen Kompetenzen und Ausdrucksmöglichkeiten brauchen einen Ort, um sich zu etablieren“, erklärt Mitinitiator Matthias Maedebach die Notwendigkeit des Ansatzes.

Sonnenuhr bewegt sich auf einem ähnlichen Terrain, allerdings mit einer größeren künstlerischen Bandbreite. Theater ist hier nur eines von mehreren (Freizeit-)Angeboten. Die Palette schließt sämtliche Künste ein, von Musik über Malerei bis zur Fotografie. Mit Ausstellungen, Workshops und Aufführungen schafft der in der KulturBrauerei beheimatete Verein Orte der praktischen Integration. Auch hier ist für die Zukunft ein Ganztagsbetrieb geplant.

Diese Anfänge sind ermutigend. Jetzt liegt es an den Adressaten, sich auch ohne Goodwillbonus für neue Sichtweisen zu öffnen.

„Ubu“, bis 23.9. (außer 17.9.), 20 Uhr, Tempodrom, In den Zelten, Tiergarten