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: Sprachkleider

In einer früheren Aufsatzsammlung hat Lothar Baier sich mit der Inflation der Identitätsmetapher beschäftigt. Sein ironischer Rat lautete, „als ersten Schritt zur Befreiung vom Identitätsterror die bescheidene Einsicht zu verbreiten, daß die wahre Identität früh genug und ganz von allein kommt, und zwar mit dem Tod. Dann ist der Prozeß Mensch zu Ende, dann ist er glücklich mit sich selbst identisch.“

Das ist in der ersten Hälfte der achtziger Jahre und somit zu einer Zeit geschrieben worden, da man die Identitätssuche für eine Sache hielt, die in unserem Teil der Welt auf lange Zeit den Individuen vorbehalten sein würde. Daß Menschen in Europa sich bald schon im Namen nationaler Identitätsfindung wechselseitig umsiedeln, deportieren und massakrieren würden, lag damals weit außerhalb des Horizonts.

Vor dem Hintergrund des neuen, seinen Namen ohne jeden Abzug verdienenden Identitätsterrors blüht eine wohlmeinende Rhetorik der Pluralität, eine Euphorie der Differenz, Alterität, Diversität und wie die Modeworte noch heißen mögen. Babylon, der Ort, an dem nach biblischer Überlieferung Gott den Menschen zur Strafe für ihre architektonische Hybris die Sprachen verwirrte, ist dabei, zum zeitgenössischen Kitschbild zu werden, während „etwas ganz anderes gleichzeitig auf dem Vormarsch ist: der Drang, Sprache, Kultur und Territorium zu einer nach außen abgeschlossenen Einheit zu verschmelzen.“ Lothar Baier hat angesichts dieser Schieflage einige Reisen zu babylonischen Territorien unternommen. Seine Berichte erzählen von den Verwüstungen im Namen der Identität, aber sie treten auch den „allzu leichtfertigen Reden über die Wohltaten der Pluralität“ entgegen. Endlich ein Buch über sogenannte „multikulturelle Fragen“, das einem keine Gesinnungen von der Stange verkaufen will.

Von der Vermutung angetrieben, „daß die Menschen heute sich lediglich einreden, für das plurale Zusammenleben besonders gut gewappnet zu sein, daß sie es aber dann, wenn sie sich ihm in der Wirklichkeit aussetzen müssen, gar nicht aushalten“, erkundet Baier zwei grundverschiedene Weltgegenden, die doch in einem vereint sind: Montréal ist und die Bukowina war einmal ein mehrsprachiges, bunt gemischtes Vielvölkergebiet.

Montréal ist eine Stadt der Immigranten, in der Französisch, Englisch, Griechisch, Japanisch, Italienisch, Spanisch, Portugiesisch und Vietnamesisch gesprochen wird, aber nicht nur die Immigranten, sondern auch die Alteingesessenen müssen sich hier mit Sprachproblemen herumschlagen: kanadisches Englisch, Standardfranzösisch und Québecer Französisch bestimmen die großen Sektoren dieser Sprachlandschaft. Baier beobachtet Verkäufer, die je nach Kundenandrang ohne Anstrengung zwischen Englisch und Französisch hin- und herspringen, um sich schließlich untereinander ein paar Brocken Griechisch hinzuwerfen: „Sprachen erscheinen wie Kleider, die je nach Umgebung und Anlaß leichthin gewechselt werden: die ganze Metaphorik des Bodens und der Wurzeln fällt von ihnen ab.“ Freilich können sich, wie Baier bei aller Begeisterung nicht verkennt, unter der Oberfläche der Mehrsprachigkeit „ungezählte individuelle Sprachdramen abspielen. Spracherwerb verläuft in der Einwanderergesellschaft oft weder locker noch lustvoll, sondern unter Zwang und unter Schmerzen.“ In der Montréaler Literatur nehmen denn auch „Sprachprobleme vielfach den Platz ein, der sonst Pubertätsdramen und psychologischen Verwicklungen vorbehalten ist.“ Wer einmal in einer Kreuzberger U-Bahn-Station türkischen Jugendlichen zugehört hat, die zwischen Deutsch und Türkisch switchen, ohne es zu bemerken, möchte gerne die Bekanntschaft dieser hierzulande kaum zugänglichen Literatur machen, von der Baier spannend zu berichten weiß.

Die Literatur der anderen „sprachverunsicherten Zone“, der Bukowina, ist legendär. Namen wie Paul Celan, Rose Ausländer, Bruno Schulz und Joseph Roth stehen dafür. Bei den Ortsterminen in Czernowitz, Drohobycz, Lemberg und Brody findet der Reisende jedoch kaum einen Halt in der Gegenwart: „Alles, was gegenwärtig in Czernowitz zu sehen ist, steht so sehr im Bann dessen, was nicht mehr zu sehen ist, daß ich mich frage, ob man überhaupt noch etwas sieht.“ Was man sieht, sind oft genug nur noch die Spuren jener Verbrechen, mittels derer das Erbe Babylons aus Europa vertilgt werden sollte. Die Liste der Freunde des Schriftstellers und Zeichners Bruno Schulz, die wie er von den Nationalsozialisten ermordet wurden, ist auf niederschmetternde Weise erhellend: achtzehn Namen, die für achtzehn Morde an achtzehn verschiedenen Orten stehen – eine kleine ausschnitthafte Kasuistik der Todesarten unter dem Vernichtungsprogramm der Nazimörder. Ein Begriff wie „Holocaust“ läßt solche Vielfalt nicht mehr ahnen.

Lothar Baier: „Ostwestpassagen. Kulturwandel – Sprachzeiten.“ Verlag Antje Kunstmann 1995. 155 Seiten, 28 DM.