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: Stolz und Vorurteil

Ein Professor westlicher Herkunft an einer Fachhochschule in der östlichen Provinz erhält Besuch von einer Journalistin. Sie kommt vom Sender aus Schwerin. Der Selbstinszenierung und dem Habitus nach könnte es sich um eine „Westfrau“ handeln, allerdings besteht auch die vage Möglichkeit, daß der Befragte es mit „einer Art raffiniert getarnter Ostfrau“ zu tun hat. Die Unsicherheit über den Status seines Gegenübers hemmt den Redefluß des sonst recht auskunftfreudigen Professors, er lauert und beobachtet, bis endlich das erleichternde Signal kommt: Die Journalistin läßt einfließen, sie sei „von Köln“ nach Schwerin geschickt worden. Die Folge ist „ein Aufatmen, nun endlich frei und unbelastet reden zu können, nicht mehr unwissentlich jemand anderen verletzen zu müssen, statt dessen einzurasten in die ihm vertraute kommunikative Normalform. Er wurde locker, hemdsärmelig in gewisser Weise, und unterhielt sich völlig entspannt, geneigt, Charme und Witz zu entfalten, soweit diese Möglichkeiten ihm zu Gebote standen.“

Das Tauwetter findet ein jähes Ende, als aus dem Gespräch hervorgeht, daß die Journalistin zwar aus Köln nach Schwerin beordert worden war, aber aus einem Dorf in Mecklenburg-Vorpommern stammt, wo sie bis zur Wende gelebt hatte. Sie habe in der DDR nicht studieren dürfen, fügt sie hinzu, vorweg den noch gar nicht geäußerten Verdacht entkräftend, sie habe „dazugehört“. Nun sprechen also ein Westprofessor mit Osterfahrung und eine Ostjournalistin mit Westausbildung miteinander. Man sollte meinen: eine ideale Situation deutsch-deutscher Verständigung. Das Gegenteil ist der Fall: „Ihre Westerfahrung schien ihm nun auf einmal wie eine dünne Tünche auf ihr zu liegen, und vieles von dem, was sie sagte, hatte auf einmal einen anderen Selektionshorizont, war einer Sinnverschiebung unterworfen, der er sich kaum entziehen konnte.“

Der besagte Professor heißt Peter Fuchs und ist Soziologe an der Fachhochschule Neubrandenburg. Wer sich mit der Systemtheorie beschäftigt hat, kennt ihn: Fuchs ist einer von Niklas Luhmanns kreativsten und eigenständigsten Adepten. Fuchs' neues Buch müßte eigentlich Furore machen, wenn denn irgend etwas wirklich dran ist an dem so eifrig bekundeten Verlangen der Kritik nach Literatur über die Wende und ihre Folgen. So hellsichtig hat bisher niemand über das Unbehagen in der Kommunikation geschrieben, das sich noch überall einstellt, wo die Ost/ West-Differenz eine Rolle spielt.

Die Grundsituation des soziologischen Erzählers ist dabei von einer tiefen Ironie: Der Held, dieser Westprofessor, hängt der Grundannahme an, Gesellschaft bestehe aus Kommunikationen. Kommunikationen, sagt seine Theorie, teilen die Welt nicht mit, sie teilen sie ein. „Wir sind Unterschiedswesen“, hatte schon Georg Simmel geschrieben, einer der Gründerväter der Soziologie. Unsere soziale Realität, so lautet als Fortsetzung dieses Gedankens einer der Glaubenssätze der Systemtheorie, entsteht ständig neu durch mittels Unterscheidungen operierende Kommunikation. Was aber, wenn der professionelle Beobachter gesellschaftlicher Kommunikation feststellen muß, daß er in eine Situation geraten ist, in der auf einmal jede Kommunikation, worum auch immer es gehen mag, die gleiche Unterscheidung benutzt, nämlich die von Ost und West. „Selbst im Versuch, sie zu verwerfen, ist sie präsent. Aber eben dies ist etwas“, schreibt Fuchs, „was ich nicht ertragen mag, Sklave einer beobachtungsleitenden Differenz zu sein, dieser bestimmten Blindheit. Ertragen mag ich nicht, im Dienst einer Differenz zu stehen, die ich kenne, die sich beim Namen nennen läßt und sich dennoch in keiner Kommunikation vermeiden läßt, einer Differenz, die Verletzungen und Rechtfertigungsnotwendigkeiten stimuliert, die das Niederschlagen der Augen erzwingt und das Verschweigen besseren Wissens, die sich nur im Medium der Ironie ertragen lassen will.“

Es hilft in dieser Lage überhaupt nicht, der einen oder anderen Seite die Pflege von „Vorurteilen“ anzulasten, denn damit ist man ja wieder im Ost/West-Spiel der Differenz. Peter Fuchs belehrt mit seinen (Selbst-)Beobachtungen über die verlockenden Schein- Vorteile des Vorurteils – für beide Seiten. Er erzählt, welche Unterschiede er wahrnimmt und wie er sie auf die Ost/West-Unterscheidung bezieht. Das ist oft genug sehr komisch: Die Ostmenschen, berichtet Fuchs mit Befremden, haben ein anderes, jovialeres Verhältnis zur körperlichen Nähe in Interaktionen. Immer wird er angefaßt, wird ihm ins Ohr geflüstert, auf die Schulter geklopft, wird er untergehakt. Beim Spaziergang am See begegnet er Nacktbadenden, die ihn fröhlich grüßen; er braucht einige Zeit, um Bekannte in den Nackten zu erkennen – „ein Grüßen, freundlich, unprüde und seltsam intim, das wahrscheinlich nur ihm merkwürdig erschien, weil er es nicht gewohnt war, mit Menschen nackt zu verkehren, die gestern noch in seinem Büro waren und morgen wieder dort sein würden.“ Fuchs denunziert niemanden, aber er biedert sich auch nicht an. Er schärft mit seinen Beobachtungen den Sinn für die Aura der Ambivalenz, die sich wie Mehltau über viele deutsch-deutsche Begegnungen legt.

Wer hingegen staatsmännisch an den Sinn für die vermeintlichen Gemeinsamkeiten appelliert (und das tun hierzulande die Intellektuellen fast noch lieber als die Staatsmänner), seien es nationale oder gar Allgemein-Menschliche, hat meist nur eines im Sinn – die realen Unterschiede und Ungleichheiten rhetorisch zu verkleistern. Damit ist aber Unterschiedswesen wie unsereinem nicht gedient, die sich bei ihrer Lieblingsbeschäftigung, dem Differenzieren, in einer klebrigen Superdifferenz verheddert haben. Wir brauchen keine Besinnung auf gemeinsamen „Werte“ – unlösbare Probleme, sagt Luhmann ironisch, heißen heute „Werte“ –, sondern wir brauchen einfach andere attraktive Unterscheidungen, um uns neu zu orientieren. Die kann man nicht aus dem Boden stampfen. Sie werden schon auftauchen, wenn der Bann der Superdifferenz Ost/West gebrochen ist. Peter Fuchs leistet dazu mit seinem kleinen, gewichtigen Buch einen unschätzbaren Beitrag. Früher nannte man es Aufklärung.

Peter Fuchs: „Westöstlicher Divan. Zweischneidige Beobachtungen“. Mit einem Foto-Essay von Bernd Lasdin. Zahlreiche Abbildungen. Edition Suhrkamp 1995, 176 Seiten, 18,80 DM