Die andere Seite der Welt

Er wollte bleiben – bis er auf eine Todesliste geriet: Jetzt lebt der algerische Schriftsteller Mohamed Magani im Berliner Exil  ■ Von Hans-Joachim Neubauer

Selbst an die Angst hatte er sich, beinahe, gewöhnt: keine Spaziergänge am Abend, sicherheitshalber kein Weg gemeinsam mit seiner Frau oder den beiden Kindern, verriegelte Türen und nachts das angestrengte Lauschen auf die Geräusche der Straße. Trotzdem blieb Mohamed Magani in Algier, wo er an seinen Romanen, Erzählungen und Essays schrieb, wo er an der Universität Pädagogik unterrichtete, wo er zu Hause war.

Mehrmals lud man ihn ein, im Ausland Schutz zu suchen. Er wollte lieber bleiben, bis er dann den Wink erhielt, daß sein Name auf der Todesliste einer fundamentalistischen Terrorgruppe stand. Magani hatte Glück: Über das kürzlich gegründete Netzwerk von „Städten der Zuflucht“ bot ihm das Internationale Schriftstellerparlament ein Stipendium an. Seit Juli lebt er mit seiner Familie in Berlin.

Hier, im Exil, ist der Algerier nur ein freundlicher Unbekannter, kaum jemand hat eines seiner Bücher gelesen. In seiner Heimat ist das anders. Mit bisher drei publizierten Romanen, zwei Bänden mit Kurzgeschichten, mit den Aufsätzen und Büchern, die er zu Fragen der Geschichtsschreibung und zur Theorie der Pädagogik geschrieben hat, und mit seinen Kritiken und Essays zählt er zu den bekannteren unter den um 1950 geborenen algerischen Intellektuellen.

Er gehört also noch zur letzten Generation, die eine rein französische Schulbildung genoß – wenn sie überhaupt eine erhielt. Das war nämlich, erzählt Magani, nicht selbstverständlich: Als die Kolonialisten – les colons, wie frankophone Algerier sagen – 1962 abzogen, hinterließen sie ein materiell und intellektuell geplündertes Land ohne eine in der algerischen Kultur verwurzelte starke bürgerliche Klasse. Etwa 95 Prozent der Algerier konnten weder arabisch noch französisch lesen oder schreiben, die Besatzer hatten das seltsam internationalistische Kunststück eines „zweisprachigen Analphabetentums“ (Magani) zustande gebracht. Auch Maganis Mutter und sein Vater, der einen winzigen Kleinhandel in einem zentralalgerischen Dorf betrieb, waren Analphabeten; Literatur, gar weltliche, war da bloß ein Wort aus einer fremden Welt.

Der Weg aus der Provinz in diese andere Welt führte über die französische Schule, ein Studium in Algier und schließlich ein Stipendium in London. Daß Mohamed Magani schreibt, liegt aber weniger an den glücklich wahrgenommenen Chancen des Außenseiters in der bügerlichen Gesellschaft. Am Anfang steht, wie so oft, ein Verlust, der Tuberkulose- Tod eines begabten, literarisch interessierten Bruders, dessen nachgelassene Manuskripte der Vater aus Angst vor einer Infektion verbrannte. „Ich schreibe wegen ihm und für ihn und für meine Eltern, die nicht schreiben konnten“, erklärt Magani lakonisch seinen dialektischen Weg zur Literatur.

Die meisten seiner Romane und Erzählungen spielen in der Zeit der post-indépendance, in den zehn, fünfzehn hoffnungsvollen Jahren nach der algerischen Unabhängigkeit. Die historische Offenheit dieser Epoche der verspielten Chancen setzt Magani als ästhetische um: Er zeigt, was möglich war, was verhindert wurde, die virtuelle Geschichte Algeriens. Vor fünf Jahren erschien in Algier sein Roman „Esthétique de boucher“ („Metzgerästhetik“).

Er handelt von einer Gruppe junger Männer und Frauen, die abseits ihres Wohnortes in einer geheimen Berghöhle ein Nebenleben platonischer und außerplatonischer Erkenntnis führen. In Sprüngen zwischen dieser parallelen Wirklichkeit und der bürgerlichen des Dorfes Lattifia liest man, was alles in einer Provinzwelt, in der „nichts passiert“, passiert. Ein Bürgermeister wird ermordet, und die Geschichten und Gerüchte um diesen Mord beleuchten die psychische Landschaft einer an den Folgen von Schuld und Gewalt der Unabhängigkeitskriegszeit laborierenden Gesellschaft. Hier gibt es keine Heldentypen, hier gibt es nur die unendliche Verdoppelung und Spiegelung der Geschichte in den Geschichten der kleinen Leute von Lattifia.

Viele Figuren des Romans haben, wie Magani erklärt, reale Vorbilder: Der Schreiber Arrat, der seine Bibliothek verbrennt, der junge Dichter Kaici, dem Schreiben und Kämpfen eins ist, der geduckte Sardinenhändler Reguieg, der schlecht riecht und schlecht handelt, und schließlich die junge Hafsa, die die Wand zwischen Tradition und Moderne durchschreitet. Was das bedeutet, lassen zwei weitere Morde erahnen. Wie in der Geschichtsschreibung hängt auch im Roman alles am Erzählen. So gibt Magani seinen Figuren Raum, ihre Version der Geschichte vorzutragen, und überspielt ironisch und lustig die Grenze zwischen Imagination und Erinnerung, zwischen offizieller und subversiver Geschichte. Gerade diese ästhetische Offenheit ist wohl den Militanten der Dorn im Auge.

Die Literatur, sagt Magani, muß die Tradition wiedererfinden: „Wir Schriftsteller der ,Dritten Welt‘ sind von der Geschichte besessen. Überall versuchen wir, uns die verlorene Erinnerung als ästhetische Erfahrung anzueignen.“ In Algerien heißt das, über historische Recherchen ein eigenes Bild der eigenen Vergangenheit zu entwerfen. Wie zuerst die Franzosen, versuchte auch das Einparteiensystem, Algerien von seinen kulturellen Traditionen abzuschneiden.

Bei Magani trifft man nicht nur einige lächelnde Metzger, sondern oft auch einen medah, den öffentlichen Erzähler mit Burnus, Flöte und beschworener Schlange. Mit ihren immer neuen alten Geschichten reisten die medahin als Stars der Straßen und Plätze durch das vortelevisionäre Nordafrika. Die colons und dann auch der Einheitsstaat unternahmen alles Mögliche gegen den flüchtigen Zauber und die erzählerische Sinnlichkeit dieser Entertainer. Sie hatten schlicht Angst vor den Anspielungen der medahin und vor dem Gelächter ihrer Zuhörer. Die staatliche Diskurskontrolle war wirksam; nur noch selten begegnet man heute den medahin in den Suks.

Um so wichtiger sind sie für den Schriftsteller; an ihnen orientiert Magani die Strategien seines Erzählens. Spiegelungen, Masken, literarische Allusionen, ineinander verschachtelte Erzählungen, Brüche im zeitlichen Ablauf und ironische Ansprachen des „Autors“ an seine „Schwester Leserin und den Bruder Leser“ – das sind nur einige der Fallen und Finten, mit denen man es in der „Metzgerästhetik“ und anderswo bei Magani zu tun bekommt. Man betritt eine helle und dichte literarische Welt; immer wieder öffnen sich Türen zu anderen Wirklichkeiten, und beim Lesen stürzt man durch die wechselnden Erzählerfiguren hindurch, bis man schließlich glaubt, was eine von ihnen hintersinnig meint: „Autor und Leser sind vielleicht die einzigen Realitäten in einer Fiktion: Weder Sie noch ich sind unsichtbar – die einzig wirkliche Beziehung.“ Lesen, als höre man dem medah zu.

Die Erzählung überwiegt das Erzählte, das Erfinden die Erfindung. Der gute Roman, schreibt Magani, hat keine Form; er ist der Wein ohne die Flasche. Vielleicht läßt sich nur so die Tradition neu ersinnen. Wie Mohamed Magani greifen viele Autoren in anderen Gegenden der „Dritten Welt“ auf die orale Tradition ihrer Länder zurück, um sich von den importierten Schreibmustern zu lösen. Wenn man die kolonisierte Phantasie befreien will, ist schon die Suche nach der richtigen ästhetischen Form politisch.

Neulich gab mir Mohamed Magani einen vor ein paar Wochen in London erschienenen Band mit seinen neuen Erzählungen zu lesen. Er heißt, ziemlich rätselhaft: „Please pardon our appearance whilst we redress the window display.“ Darin fand ich, ganz hinten, ein paar autobiographische Seiten mit dem gleichen schönen Titel. Magani erzählt dort, wie er im analphabetischen Algerien Schriftsteller wurde, und er deutet an, wie es ist, nur mit Worten um die kollektive Erinnerung, also die Zukunft zu kämpfen, während Regime und Antiregime ganz andere Mittel einsetzen. Und er schildert einen Augenblick, in dem wie in einem glimpse von James Joyce etwas aufleuchtete: Irgendwo in einer ausländischen Stadt kam er einmal an einem großen, spiegelnden Buchladenfenster vorbei, das gerade dekoriert wurde.

Plötzlich „fühlte ich mich entzweigespalten“, schreibt Magani, „als ob die gläserne Vision die Hälfte meines Blutes, meiner Zellen, meines Hirns aufgesogen hätte, oder mich ganz; erschrocken sah ich mich im Schaufenster gehen. Ich war zugleich im der Scheibe und in meinem Körper. Ich ging neben mir, Seite an Seite. Der Mann in der Auslage schien meine Verwirrung bemerkt zu haben, denn er klopfte gegen die Scheibe und zeigte mit dem Finger auf einen Hinweis, der die Passanten bat, ihre Anwesenheit zu entschuldigen, solange sie das Schaufenster dekorierten.“

So ist es auch mit dem Schriftsteller im heutigen Algerien: Hinter ihm liegt das analphabetische Erbe der Kolonialzeit, vor ihm eine immer brutaler werdende Gesellschaft in der Auflösung – da hat er nur einen kurzen, flüchtigen Auftritt. Was bleibt ihm zu tun, als darum zu bitten, daß man seine Anwesenheit entschuldigt, während er ganz schnell noch das Schaufenster der Gesellschaft umdekoriert? Hier muß die „Literatur als solche“ erst noch geboren werden, lese ich. „Ihre Tage sind gezählt, bevor sie das Licht der Welt erblickt. So gesehen, verkörpert der lebende Schriftsteller den Tod der Literatur.“

Solange man liest, schaut man auf die andere Seite der Welt.