Ein Teil bleibt zurück

Das Exil ist eine Wirklichkeit in dieser Stadt. In der Neuen Weltordnung hat sich auch die Landkarte der Verbannung verändert. Zum Auftakt einer taz-Reihe über Exil in Berlin  ■ Von Hans-Joachim Neubauer

Einst war Verbannung eine feste juristische Größe, die Strafe für ein Vergehen. „Von einem Exil spricht man dann, wenn jemand wegen eines Verbrechens dazu verurteilt wird, das Staatsgebiet ganz oder einen bestimmten Teil davon zu verlassen, und wenn er während einer bestimmten Zeit oder für immer nicht mehr zurückkehren darf“, schreibt Thomas Hobbes in seinem „Leviathan“. Wie schwer diese Strafe sein konnte und kann, zeigen Ovids „Briefe aus der Verbannung“, der Beginn der Exilliteratur. Der römische Dichter verfaßte sie, nachdem ihn sein Kaiser – auch wegen seiner „Ars amatoria“, der „Liebeskunst“ – aus Rom in die Barbarei, an die Schwarzmeerküste des heutigen Rumänien, verwiesen hatte. Über den Abschied von der Heimat und von der Frau schreibt Ovid: „Ganz so ist meine Trennung, als ließe ich eigene Glieder, / ja, ein Teil meines Leibs löst sich, so scheint's, von mir ab.“ Nach der erzwungenen Reise geht der Blick von dem „schaurigen Ort“ sehnsüchtig zurück.

Wer es heute schafft, das Exil zu erreichen, hat schon Glück gehabt. Auch wenn er in ein „Niemandsland“ kommt wie der litauische Dichter Czeslaw Milosz, der im fremden Paris die „Höhenangst“ der Verlorenheit erlebte. Im Exil wird jeder Ort zur Station, weit weg von zu Hause, aber „Entfernung wird nicht nur in Meilen gemessen, sondern auch in Monaten, Jahren oder Dutzenden von Jahren“, schrieb Milosz. Viele, die flohen, altern in der Ferne, oft ohne wirklich dort anzukommen. Neulich sprach ich mit dem algerischen Journalisten Arezki Metref, der zusammen mit dem 1993 ermordeten Tahar Djaout in Algier das kritische Oppositionsblatt Ruptures gegründet hatte. Er sagte: „Wir Algerier leben hier in Paris, aber unsere Herzen sind in unserer Heimat.“ Das Exil kennt keine Ruhe.

Nach dem Ende des Sozialismus und der Apartheid hat sich die lange Zeit ziemlich stabile Landkarte des Exils verschoben. Vom „klassischen“ staatlich verfolgten Dissidenten ist seither vergleichsweise selten die Rede, etwa noch im Falle Chinas oder Kubas. Dagegen drängen andere Typen von Bedrohung stärker ins öffentliche Bewußtsein. Immer mehr Menschen fliehen vor Unruhen, Bürgerkrieg und Chaos in ihren Ländern; sie kommen aus Bangladesch, aus dem ehemaligen Jugoslawien, aus der Türkei, aus Nigeria, dem Iran und natürlich aus Algerien. Alte Schicksale vermischen sich mit neuen. Russische Juden fliehen vor dem wachsenden Antisemitismus hierher und begegnen Dissidenten aus der früheren Sowjetunion. Der Krieg im ehemaligen Jugoslawien, die Granaten, Heckenschützen und „ethnischen Säuberungen“ treiben Autoren, Filmer und Publizisten ins Ausland, und unter den zigtausend Algeriern, die in den letzten Jahren ihre Heimat verlassen mußten, sind große Teile der bürgerlichen Eliten, also auch Schriftsteller und Intellektuelle, die aus der Distanz des Auslands die Entwicklung in Algerien beobachten. Entfernung aber bedeutet nicht schon Rettung, und viele, die flohen, werden zu Nomaden, Trabanten einer unerreichbaren Heimat. Das Leben in der Ferne, so wird in Gesprächen mit Exilierten deutlich, entfremdet von den Wurzeln, von der eigenen Sprache. Schon Ovid klagte darüber, daß er in der Fremde „nur barbarische, tierische Laute“ vernahm, so daß ihm die Muttersprache nach und nach entglitt. Auch daher rührt die typische Einsamkeit des Exils.

Für das paradox nahferne Verhältnis des Exulanten zu seiner verlorenen Heimat sehen viele nur eine Lösung, die totale Assimilation. Der Emigrant muß, was er kann, weiß und ist, in die Kultur des Gastlandes „übersetzen“, faßte der Soziologe Alfred Schütz 1944 die Erfahrungen seines eigenen amerikanischen Exils zusammen. Nur so könne er dem Anpassungsdruck und dem Mißtrauen der Mehrheit entgehen: „Then the stranger is no stranger any more, and his specific problems have been solved“, lautet das unheimliche Fazit dieser Theorie des Exillebens. Für die Künstler und Schriftsteller fangen die Probleme aber damit erst an. Sie können ihren alten Wirkungskreis und den Bezugsrahmen ihrer Arbeit nicht einfach austauschen, wenn sie das Eigene bewahren wollen. In der doppelten Distanz zur Herkunft und zum Fluchtort sehen sie ihre einzige Chance, an der Produktion und am Markt in ihrem Gastland teilzuhaben. Viele von ihnen bestätigen die Erfahrung des Soziologen Schütz, daß der Exulant „a man without a history“ ist, ob nun in den vierziger Jahren in New York oder im Berlin von heute.

Dies erfährt man am deutlichsten am Exilort schlechthin, der Behörde, dem Amt. Der in seiner Heimat Bangladesch berühmte Schriftsteller Daud Haider kann darüber eine seltsame Geschichte erzählen. Mit Glück und prominenter Hilfe kam er hier in Berlin an, knapp dem fundamentalistischen Terror entgangen. Ein gründlicher Beamter forderte ihn auf, einen Ausbildungsnachweis vorzulegen. Stolz holte Haider seine Bücher aus der Tasche, doch er erntete nur ein Grinsen. Da könne ja jeder kommen, und wer könne so etwas schon lesen. Das Exil schafft Distanzen, aber es nimmt die Geschichte. Namen kann man nicht übersetzen.

Welatê xerîbiyê, fremdes Land, ist Deutschland nicht nur für Kurden. Wer sich mit algerischen, chinesischen, kurdischen, mongolischen und anderen Künstlern unterhält, erkennt bald, daß diese Fremde außer all den Problemen des praktischen Lebens auch Chancen bietet. Für manche, die sich hierher retten, kann dies ein schönes Land sein, offen, frei, menschlich. Und manche erkunden von Berlin aus die eigene Sprache, die verbotenen schriftlichen und die vergessenen oralen Traditionen ihrer Kultur. Was sie und andere von ihrem Leben hier erzählen, wie sie herkamen, warum sie im klassischen Exilort Berlin oder auch einer anderen europäischen Großstadt Station machten und ob sie bleiben möchten, darüber werden wir in den kommenden Monaten in einer Reihe von Porträts berichten.

Als wir mit den Recherchen begannen, schien uns das Exil weit weg zu sein, in einer anderen Welt. Jetzt wissen wir, es gehört zum Alltag unserer Stadt.

Folgende Seite: Porträt des algerischen Autors Mohamed Magani