„Dies ist eine ganz gewöhnliche Stadt“

Khaled Kelkal, der meistgesuchte Mann Frankreichs, stammt aus einer Kleinstadt bei Lyon  ■ Aus Vaulx-en-Velin Dorothea Hahn

Was wollt ihr hier?“ Der barfüßige junge Mann in Gummischlappen zischt die Frage heraus. „Warum geht ihr nicht nach Lyon oder nach Paris?“ Beide Hände tief in den Hosentaschen versenkt, baut Kader sich dicht vor den Fremden auf, die neben dem Gebetssaal aufgetaucht sind, um ihrerseits Fragen zu stellen. „Warum kommt ihr erst jetzt und nicht, als wir hier den Sportpalast eingeweiht haben?“

Khaled Kelkal, den meistgesuchte Mann Frankreichs, kenne er nicht, sagt der junge Mann, und islamische Fundamentalisten gebe es in Vaulx-en-Velin überhaupt nicht. „Dies ist eine ganz gewöhnliche Stadt“, belehrt er, „hier wird Boule und Fußball gespielt. Hier gibt es dann und wann eine Schlägerei. Hier fühlen wir uns wohl.“ Dann ergänzt er: „Außerdem bin ich Italiener.“ Bei seinem Vortrag wird Kader immer wieder von neu hinzukommenden Jugendlichen unterbrochen. Auf arabisch begrüßen sie ihren Freund. Dazu schütteln Foued, Kheil und die anderen ihm die Hand und tippen sich anschließend nach traditioneller Art kurz mit den Fingern auf die Brust.

Vaulx-en-Velin, zwei Autobahnabfahrten östlich von Lyon, ist seit ein paar Tagen in aller Munde. Khaled Kelkal ist hier zu Hause. Fingerabdrücke des 24jährigen wurden Ende August auf einer Bombe gefunden, die an der Zugstrecke Lyon–Paris deponiert war und nicht explodierte. Auch im Zusammenhang mit dem Mord an einem muslimischen Geistlichen in seiner Pariser Moschee im Juli soll er Spuren hinterlassen haben. Im Morgengrauen des vergangenen Samstags – wenige Tage nach einem Bombenanschlag vor einer jüdischen Schule im benachbarten Lyon – umzingelte ein großes Polizeiaufgebot die Siedlung Les Barges in Vaulx-en-Velin, in der Khaled Kelkal lebt. An Stelle des angeblichen islamischen Fundamentalisten, der seit einer Schießerei mit der Polizei Ende Juni untergetaucht ist, nahmen sie Freunde und Verwandte des 24jährigen zum Verhör mit. Schon am Montag danach beschrieb das Blatt Le Figaro den Werdegang des Gesuchten unter dem Titel „Vom Kleinkriminellen zum Terroristen“.

Wenige Tage nach der Razzia sind die Straßen der grauen Siedlung menschenleer. Hinter verschlossenen Fenstern werden vorsichtig Stores zur Seite geschoben. In dem fünfstöckigen Wohnhaus des Mannes, dessen Foto durch sämtliche Zeitungen gegangen und über alle Fernsehsender geflimmert ist, sind an zwei Briefkästen die Schilder mit den türkisfarbenen Namenszügen abmontiert. An ihrer Stelle glänzen frische Rechtecke auf den Briefkästen. Daneben hat jemand ein weißes Hakenkreuz auf die Wand gemalt – zwischen den detaillierten Aufforderungen der Hausverwaltung zu Ruhe und Sauberkeit.

Kaum sind die Fremden aufgetaucht, verläßt eine Dame mit Hund das Nachbarhaus. Zielstrebig zerrt sie ihr braunes Tier an der Leine zu dem unbekannten Auto auf dem Parkplatz, wo sie die Nase an das Fahrerfenster preßt. „Ich will sehen, ob es kurzgeschlossen ist“, erklärt sie, „hier stellen die doch immer ihre geklauten Wagen ab.“ Vor dreißig Jahren, direkt nach dem Erstbezug, sei es in Les Barges „sehr kokett“ gewesen. Dann seien die vielen Araber und Asiaten gekommen. Heute lärmten beständig Kinder und Jugendliche auf der Straße, denen die Eltern mitunter sogar das Mittagessen aus dem Fenster zuwerfen würden.

Die Siedlung Les Barges – „die Sumpfschnepfen“ – ist nur durch eine alte Scheune von dem historischen Kern von Vaulx-en-Velin getrennt. Das Blumenbeet rund um die Ortskirche ist frisch geharkt. Nebenan im Wettbüro sind alle Tische besetzt. Gegenüber dringt der Duft von warmen Baguettes aus der Bäckerei. In diesem Ortsteil hat die rechtsextreme Front National bei den Bürgermeisterwahlen im Juni 34 Prozent der Stimmen bekommen.

Im Rathaus von Vaulx-en-Velin sitzt jedoch derselbe Bürgermeister wie zuvor – der von den Sozialisten unterstützte Reformkommunist Maurice Charrier. Das alte Rathaus neben der Kirche im Ortskern hat Charrier längst verlassen. Er ist ein paar Kilometer weiter in einen sechsstöckigen Bau aus Glas und Metall gezogen, der zu diesem Zweck an die Ecke der Ho-Chi- Minh- und Nelson-Mandela- Straße gestellt wurde. Zu Füßen des neuen Rathauses liegen neben einem Einkaufszentrum die wichtigsten architektonischen Zeugnisse der jüngsten Stadtgeschichte: Das Kulturzentrum „Charlie Chaplin“, der Sportpalast, das Gymnasium der Stadt, das erst Anfang dieses Monats eröffnet wurde, und das Planetarium, das im Oktober in Betrieb gehen soll.

Rathausmitarbeiterin Annette Rivet sieht ihre 44.000-Einwohner- Stadt, die 30 Prozent Immigranten und 16 Prozent Arbeitslose zählt und in den siebziger Jahren ein rasantes Wachstum verzeichnete, als Opfer von externen Entwicklungen. So habe die Industrie lange die Zuwanderung ermuntert, und dann sei 1980 schließlich der größte Arbeitgeber, die Kunstseidenfabrik „Rhône-Poulenc“, abgewandert. So hätten die stets konservativen Politiker im benachbarten Lyon die „problematische Bevölkerung“ aus der Innenstadt verdrängt und in Wohnsilos in der Banlieue umgesiedelt. So sei von den Sozialwohnungsverwaltungen nicht im geringsten auf eine Belegung mit unterschiedlichen Gruppen von Mietern geachtet worden, weshalb es in den Siedlungen zu Komplikationen gekommen sei.

Den Einzug von sieben Rechtsextremen in den 43köpfigen Stadtrat der traditionell kommunistischen Hochburg, aber auch die Straßenschlachten, die 1990 und 1994 das Geschäftszentrum von Vaulx-en-Velin zerstörten, hält Rivet für Folgen jener Fehler. „Der Staat hat uns das aufgezwungen“, sagt sie.

In der südlichen Nachbarstadt Venissieux, dem zweiten kommunistischen Ort in der Lyoner Banlieue, führte diese Wohnungspolitik letztlich zum Einsatz von Dynamit. Die erst zwei Jahrzehnte alten Wohntürme der Siedlung Les Minguettes wurden gesprengt. Vaulx- en-Velin hingegen, das eher langgestreckte, flachere Wohnanlagen hat, versuchte es mit Bürgernähe. Das Rathaus ermunterte runde Tische und Stadtteilzeitungen und begann flächendeckende Verschönerungsarbeiten, die noch längst nicht abgeschlossen sind.

Daß jetzt islamische Fundamentalisten aus französischen Vorstädten für die Serie von Attentaten in Paris und Lyon verantwortlich gemacht werden, hat im Rathaus von Vaulx-en-Velin nicht überrascht. Seit ein paar Jahren schon beobachten Sozialarbeiter, wie sich Fundamentalisten in der islamischen Vereinswelt breitmachen und Propagandavideos kursieren. Daß immer mehr Frauen Kopftücher tragen und neue Gebetssäle eröffnet werden, bewerten sie als weitere Anzeichen dieser Entwicklung. Die Fahndungsmethoden erschütterten Rathausmitarbeiterin Rivet dennoch. „Die Veröffentlichung der Polizeifotos des gesuchten Khaled Kelkal und die Lösegeldsumme, die der Innenminister ausgeschrieben hat, das ist eine Form der Denunziation, die es zuvor bei uns nicht gegeben hat“, empört sie sich.

Auf der anderen Seite der Leninpromenande in dem „Problemviertel“ Ecoins sind Kader und seine Freunde ganz ähnlicher Ansicht. „Die haben den in Null Komma nix zum Staatsfeind Nummer eins gemacht“, sagt ein Zwanzigjähriger, der Khaled Kelkal „vom Sehen“ kennt. Von der Rathausmitarbeiterin unterscheidet ihn, daß er die Blitzkarriere vom Verdächtigen zum Schuldigen schon oft erlebt hat: „Sobald man hier ein Verfahren am Hals hat, macht einen die Justiz für alles mögliche verantwortlich – für ein ausgeplündertes Geschäft, einen Brand. Ganz egal.“

Die jungen Männer zwischen 17 und 24 Jahren, die an diesem regnerischen Mittag in einem Hauseingang in Sichtweite des Gebetssaales diskutieren, kommen aus Marokko, Algerien und Tunesien – sagen sie, auch wenn fast jeder von ihnen einen französischen Paß hat und nie anderswo als in Vaulx- en-Velin gelebt hat. Alle bezeichnen sich als Muslime, wenn auch längst nicht immer als praktizierende.

Ein 21jähriger Marathonläufer beschreibt seine Abkehr von der Religion verschämt: „Mit 14 hat mir viel gefehlt – die Mädchen, die Bars, die Feste. Außerdem war es unmöglich, fünfmal täglich beten zu gehen und gleichzeitig zu trainieren. Da habe ich aufgehört.“ Heute kehrt er, wie viele seiner Freunde, allmählich zum Islam zurück. Aber den Marathonlauf und seinen geliebten Breakdance will er nicht aufgeben.

Ein Gleichaltriger reißt Witze über „die Schwäche“ des Marathonläufers. Er selbst sei mit 18 zum Islam „zurückgekehrt“, sagt der vollbärtige Foued und strahlt unter seiner Schirmmütze mit der Aufschrift „Chicago Bulls“ hervor. Seither habe er „alles Böse“ verdrängt. Alkohol habe er ohnehin nicht getrunken, aber auch das „Klauen und die Kontakte mit den Mädchen“ habe er eingestellt. Foued, der heute einen Halbtagsjob hat, ist „von einem Italiener, der seinerseits zum Islam konvertiert war“, bekehrt worden.

In Tunesien, dem Land, aus dem seine Eltern stammen, findet Foued den „wahren Islam“ nicht. Die Nachtclubs, der Alkohol – das stört ihn. Eines Tages will er vielleicht nach Saudi-Arabien auswandern, „weil dort die Frauen keine Miniröcke tragen und die Justiz gerecht ist“. Vorerst jedoch plant er, „eine gläubige Muslimin“ zu heiraten, „weil die Versuchung doch ständig wächst“. Als Fundamentalist sieht sich Foued mitnichten. Was „in Algerien passiert“, findet er „falsch“. Aber gegen die Bekehrung von Nichtgläubigen hat er wirklich nichts einzuwenden. Das ist schließlich ein Auftrag des Korans.

Stolz zählen die jungen Männer die Nichtmuslime ihres Stadtteils auf, die sich bekehren ließen. Militante Fundamentalisten, zumal die algerischen, von denen der zuständige Polizeipräfekt behauptet, daß sie in den Vorstädten sehr aktiv seien, wollen die meisten von ihnen nie erlebt haben. Einer erinnert sich ganz vage an „vier oder fünf Männer, die in den Gebetssaal gekommen sind und im Anschluß an das Gebet einen Vortrag gehalten haben“. Sie kamen von außerhalb und erklärten den Eltern von Vaulx-en-Velin, daß der Islam ihre Kinder vor dem Absturz in die Delinquenz schütze. Die algerische Islamische Heilsfront (FIS) ist allen Jugendlichen ein Begriff. Kader, der „Italiener“, trumpft mit Texten des in Deutschland lebenden FIS- Auslandssprechers Rabah Kebir auf, die er gelesen hat. Die „bewaffneten islamischen Gruppen“ (GIA) hingegen, die täglich Attentate in Algerien verüben und in diesen Tagen auch die Franzosen in Angst und Schrecken versetzen, sehen die Jugendlichen als „etwas ganz anderes“, was in Vaulx-en- Velin nicht vorkomme.

Daß Khaled Kelkal die Attentate begangen hat, kann sich kaum einer seiner Altersgenossen in Vaulx-en-Velin vorstellen, die heute zugeben, den Flüchtigen zu kennen. Es sei denn, er wurde dafür bezahlt. „Ein Banlieusard würde so etwas nur für Geld tun“, ergänzen manche. So wichtig wie der Rest der französischen Gesellschaft finden die Jugendlichen die Attentate aber auch wieder nicht. Ein 24jähriger fragt: „Warum tut Frankreich so wenig in Bosnien und macht eine Staatsaffäre aus ein paar Attentaten?“