Fast 700 Hinrichtungen pro Jahr

■ In der Breschnew-Ära wurden in der Sowjetunion viele Menschen durch erpreßte Geständnisse zum Tode verurteilt

Berlin (taz) – In der Sowjetunion wurden zwischen 1960 und 1991 21.000 Todesurteile vollstreckt. Mit jährlich etwa 700 Hinrichtungen lag die UdSSR damit neben China an der Weltspitze. Dies berichtete der russische Schriftsteller Anatolij Pristawkin bei einem Besuch in Berlin.

Pristawkin ist Vorsitzender einer „Kommission für Begnadigungen“, die 1992 auf Anregung des russischen Menschenrechtlers Sergej Kowaljow gegründet wurde. Eine ähnliche Instanz gab es zwar auch zu Sowjetzeiten. Damals saßen in dieser Kommission jedoch die Richter, die die Todesurteile selbst verhängt hatten. Nun sind in der Begnadigungskommission 13 bedeutende Persönlichkeiten der russischen Öffentlichkeit vertreten, unter ihnen der Liedermacher Bulat Okudshawa und der Schriftsteller Fasil Iskander.

Seit 1992 kommen sie einmal wöchentlich zusammen. Bei der Durchsicht der sowjetischen Urteile kam man laut Pristawkin zu dem Schluß, daß auch in nichtpolitischen Prozessen unzählige Menschen zu Unrecht zum Tode verurteilt wurden. So habe die Justiz von einem 27jährigen Mann ein Mordgeständnis mit der Drohung erpreßt, sich an seiner Frau und seinen Kindern zu vergreifen. Der Mann wurde hingerichtet, wenig später faßte die Polizei den tatsächlichen Mörder.

Viele Todesurteile wurden – so Pristawkin – mit dem Ziel verhängt, lästige Zeugen loszuwerden: Ein Sechzigjähriger hatte von hohen Parteifunktionären Bestechungsgelder genommen, eine Frau Lebensmittel an Angehörige der Regierung verschoben. Auch wurden viele Menschen verurteilt, obwohl sie sich im Augenblick der Tat im Zustand der Unzurechnungsfähigkeit befanden.

Tagungsort der Begnadigungskommission ist das ehemalige Arbeitszimmer des Vorsitzenden der Kontrollkommission der KPdSU, Boris Pugo, jenes Mannes, der im August 1992 zu den Anführern des Putsches gegen Michail Gorbatschow zählte. Jährlich überprüfen die ehrenamtlichen Kommissionsmitglieder – nur der Vorsitzende Pristawkin erhält ein Gehalt – an die 10.000 Gerichtsurteile. Jede Woche muß also über rund 200 „Fälle“ entschieden werden, darunter sind in der Regel zehn Todesurteile. Dank dieser Arbeit konnte die Zahl der Hinrichtungen 1992 auf vier, 1993 auf drei begrenzt werden.

Angesichts der wachsenden Kriminalität in Rußland stehen die Mitarbeiter jedoch unter starkem Druck der Öffentlichkeit: Bei letzten Meinungsumfragen sprachen sich sechzig Prozent der Russen für die Beibehaltung der Todesstrafe aus. Zwar gelang es Pristawkin, bei Jelzin die Vorbereitung eines Gesetzes durchzusetzen, das als Höchstrafe „nur“ noch lebenslänglich vorsieht. Seit Beginn des Tschetschenienkrieges liegt dieser Gesetzentwurf jedoch auf Eis. Der Präsident, der wegen des Einmarsches in die Kaukasusrepublik von allen Seiten kritisiert wird, versucht in anderen Bereichen sein Image aufzupolieren. Begnadigungen, so Pristawkin, würden da sicherlich nur schaden.

Die Zahl der vollstreckten Todesurteile stieg 1994 daher wieder, auf insgesamt 19. Jelzin würde, so Pristawkin, die ihm von der Kommission vorgelegten Gnadengesuche gleich listenweise ablehnen. Todesurteile aus politischen Gründen gebe es dagegen nicht mehr, das letzte Lager für politische Gefangene sei 1992 aufgelöst worden.

Pristawkin berichtete auch über die Zustände in den russischen Haftanstalten. Dort werde noch immer gefoltert, besonders hart seien die Bedingungen in den nördlichen Gebieten Rußlands, wo weiterhin die alte kommunistische Garde an der Macht sei.

Insgesamt gibt es in Rußland derzeit eine Million Strafgefangene, hinzu kommen noch die Untersuchungsgefangenen, die ein bis zwei Jahre auf ihre Verhandlung warten müßten. Die Anstalten seien so überbelegt, daß in drei Schichten geschlafen werden müsse.

Da viele der Menschen, die zum Tode verurteilt sind, diese Bedingungen nicht ertragen könnten, hätten sie um einen schnellen Termin für die Hinrichtung gebeten. Ekkehard Maaß