: Nobelpreis wider Willen?
■ Querelen um die erste Carl von Ossietzky-Gesamtausgabe/ Haben die Oldenburger HerausgeberInnen Entscheidendes unterschlagen?
Streit ist entbrannt um die erste Gesamtausgabe der Schriften von Carl von Ossietzky, die vergangenes Jahr bei Rowohlt erschienen ist. Unter dem Titel „Die Legende wird zerstört“ erhebt der „Spiegel“ (32/95) schwere Vorwürfe: Die Herausgeber von der Ossietzky-Forschungsstelle an der gleichnamigen Universität in Oldenburg sollen „durch das Weglassen entscheidender Dokumente“ Ossietzkys Biographie verzerrt haben.
Der Vorwurf des „Spiegel“ wiegt besonders schwer, weil die Herausgeber mit der Edition sämtlicher Schriften Ossietzkys der andauernden Legendenbildung um seine Person einen Riegel vorschieben wollten. Doch wo der Spiegel den Vorwurf der Zensur an die Editoren erhebt, verfährt er selbst um keinen Deut besser. Einziger Informant der Hamburger Nachrichtenkünstler ist der ehemalige Schüler und heutige Intimfeind des Oldenburger Mitherausgebers, Stefan Berkholz.
Im Zentrum der Auseinandersetzung steht der Vorwurf von Berkholz, daß die Freunde aus dem Exil Ossietzky zum Propaganda-Medium gemacht hätten. Indem sie die Nobelpreiskampagne vorantrieben, sei die Person Ossietzkys immer mehr in den Hintergrund gerückt. Letztendlich sei die Kampagne gegen Ossietzkys Willen durchgeführt worden. Berkholz, der ehemals an der Ossietzky-Forschungsstelle in Oldenburg beschäftigt war, stützt seine Kritik auf einen einzigen Pfeiler: einen Brief des englischen Quäkers Thomas Catchpool, der belege, daß Ossietzky die Kampagne aus dem KZ heraus ablehnte, sei in der Dokumentenausgabe bewußt unterschlagen worden. Mitherausgeber Gerhard Kraiker, im „Spiegel“ nicht zu Wort gekommen, setzt sich gegen diesen Vorwurf zur Wehr: „Diese Ablehnung haben wir dokumentiert durch andere, nach unserer Einschätzung zuverlässigere Zeugen. Außerdem wird Catchpools Brief von uns referiert und nicht unterschlagen“. Darüber, wie Ossietzky zu der Kampagne stand, gibt es widersprüchliche Aussagen, die sich in dem Band wiederfinden.
Mit endgültiger Sicherheit kann das heute nicht mehr entschieden werden, weil die Möglichkeiten unzensierter Kontaktaufnahme mit einem KZ-Häftling gleich Null waren. Als Beleg für seine These, daß die deutschen Exilanten Ossietzky zu Propaganda-Zwecken mißbraucht hätten, führt Berkholz einen Brief der sozialdemokratischen Journalistin Hilde Walter an. Sie schrieb 1935 aus dem Pariser Exil an Willy Brandt: „Die wirklich guten und wirksamen Artikel von 0. (...) sind so, daß sie uns die ganze Friedenskampagne kaputt machen. Ich fürchte, die große Legende wird zu leicht zerstört und damit die Propaganda-Möglichkeit.“
Dieser Brief, in der Gesamtausgabe fehlend, belege die instrumentelle Haltung der Freunde. Der Spiegel-Artikel hat schon hohe Wellen in Oldenburg geschlagen. In einem dem Spiegel vorliegenden, bisher nicht abgedruckten Leserbrief wenden sich zwei der Editions-Mitarbeiter, Bärbel Boldt und Christoph Schottes, gegen die Unterstellung der Geschichtsklit- terung: „Wie man dem im Artikel zitierten Brief an Willy Brandt entnehmen kann, geht es nicht darum, durch Legendenbildung dem Häftling Ossietzky zu schaden, sondern im Ausland die Bedeutung des dicht am Tagesgeschehen schreibenden Journalisten der Weimarer Republik deutlich zu machen“.
Die Schwierigkeit der Exilanten bestand in den ersten Jahren nach der Machtergreifung durch die Nazis darin, sich im Ausland überhaupt Gehör zu verschaffen. Man sei sich darüber im klaren gewesen, daß die Nominierung Ossietzkys für den Friedensnobelpreis mehr war als eine Verbeugung vor der Person, sondern eines der wenigen verbleibenden Mittel, die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf Deutschland zu lenken. „Endlich einmal eine gute Nachricht“ war die Reaktion von Thomas Mann, als er davon erfuhr, daß trotz des starken Drucks der Nazis auf die norwegische Regierung Ossietzky 1936 der Nobelpreis zuerkannt wurde. Für Willy Brandt zählte die Kampagne zu einer der „wenigen deutschen antinazistischen Aktionen, die zum Erfolg führten“.
Berkholz widersetzt sich dieser Einschätzung: „Unterschlagen wird, daß das eigentliche Ziel, Ossietzky frei zu bekommen, nie erreicht wurde.“ Ossietzky zunächst als Opfer seiner Freunde und nun auch noch der Oldenburger Herausgeber? Unterzieht man Berkholz' Argumente einer genaueren Betrachtung, entpuppt sich der Zensurvorwurf als publizistisches Scheingefecht. Viel Lärm um nichts.
Der „Spiegel“ hatte, fast ein Jahr nach Erscheinen, noch nicht über die Oldenburger Gesamtausgabe berichtet. Da kamen die wütenden Angriffe eines Berkholz gelegen, um Versäumtes nachzuholen. Woher die Wut von Berkholz kam, zählte da wenig. Der Ossietzky-Experte Berkholz war als Hilfskraft an der Oldenburger Forschungsstelle im Berliner Archiv auf die Gefängnisakte Ossietzkys gestoßen, die er –als bisher einzige Publikation – 1988 auf eigene Faust bei Luchterhand herausgab. In Oldenburg, der Hochburg der Ossietzky-Forschung, hat man ihn daraufhin an die Luft gesetzt.
Volker Siefert
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