Mit Karl Marx und ohne Ruß

Chemnitz auf dem Weg zum „Innovationszentrum“. Kleine Firmen verhungern jedoch oft wegen viel zu spät greifender Förderprogramme  ■ Von Detlev Krell

Auf dem traditionsreichen Industriestandort des ehemaligen Fritz-Heckert-Kombinats im Chemnitzer Süden zieht wieder Arbeitsleben ein. Neben der Heckert Werkzeugmaschinenbau GmbH, dem an die Traub-Gruppe in Reichenbach-Fils verkauften Kern des einstigen Kombinates, siedeln hier mittelständische Firmen mit zusammen 265 MitarbeiterInnen. In den nächsten drei Jahren will die Verwaltungsgesellschaft des „Industrie- und Technologieparks“ weitere 750 Arbeitsplätze schaffen.

Chemnitz, das sächsische Manchester, feilt an seinem neuen Image. Die Stadt der Maschinenbauer strebt mit High-Tech an die Spitze der Branche. „Innovations- Werk-Stadt“ lautet der neue Slogan. Dazu das „C“: Für Chemnitz und für Copyright. Dabei hält sich die Stadt eigenwillig ihre Traditionen zugute. Kein Kommunalpolitiker und kein Wirtschaftsmanager versäumt im Gespräch zu erwähnen, daß hier in den dreißiger Jahren pro EinwohnerIn das höchste Gewerbesteueraufkommen Deutschlands erwirtschaftet und die meisten Patente angemeldet wurden. Karl-Marx-Stadt erarbeitete 17 Prozent des industriellen Bruttosozialprodukts der DDR.

In der Stadt arbeiten 50 Forschungseinrichtungen, 150 sind es in der Region. Das auf zwei Standorten mit rund 12.000 Quadratmetern eingerichtete Technologiezentrum TCC ist ausgebucht. Rund 50 junge und technologieorientierte Unternehmen können dort für begrenzte Zeit preisgünstig und mit modernster Infrastruktur in die Marktwirtschaft starten. Stadt, Bund und Land fördern großzügig. Und noch in diesem Jahr ist Baubeginn für eine 750-Millionen-Investition: Das von Nordkorea und der Stadt Chemnitz ausgehandelte euro-asiatische High-Tech-Zentrum wird Arbeitsort für rund 500 Wissenschaftler und Spezialisten.

Chemnitz will damit auch die Kritik an der Pflege industrieller Kerne widerlegen. Die habe ehemalige Produktionszentren der DDR „im Standortwettbewerb zurückgeworfen“, urteilte zu Jahresbeginn etwa das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Was in Chemnitz so nicht zutrifft, entgegnet Oberbürgermeister Peter Seifert (SPD). Traditionsbetriebe im Maschinen- und Fahrzeugbau seien „weitgehend privatisiert“. VW baut in Mosel für 800 Millionen Mark ein Motorenwerk. Traub-Heckert steigerte seinen Umsatz im 1. Halbjahr um 50 Prozent auf 66 Millionen Mark. Der Kernbetrieb des Kombinates Numerik wurde von Siemens übernommen. „Wir haben hervorragend ausgebildete Facharbeiter und Ingenieure. An diese Kompetenz wird angeknüpft.“ Das Gewerbesteueraufkommen pro EinwohnerIn erreichte 1994 bereits wieder den Spitzenplatz unter den ostdeutschen Städten.

Eine Neubewertung des Begriffs „industrielle Kerne“ fordert nun Karl Brenke, Regionalexperte des DIW. „Bisher werden darunter meist große, regional bedeutsame Betriebe verstanden. Die Frage ist, wie mit einem Konglomerat von Klein- und Mittelbetrieben neue Strukturen geschaffen werden können, welche Chancen die auf dem Weltmarkt haben, und wie schnell sie sich von Subventionen abnabeln können.“

Denn auch Chemnitzer Firmen sind von der Pleite bedroht. „Woche für Woche“, klagt das Stadtoberhaupt, „gehen hochinnovative Firmen kaputt. Die überstehen einfach nicht die Durststrecke von der Idee, der Entwicklung eines Erzeugnisses bis zur Markteinführung.“ Das Landesamt für Statistik registriert in Sachsen eine Flut von Konkursanträgen. 185 Vollstreckungsverfahren wurden im April eröffnet oder mangels Masse abgelehnt, 49 mehr als im April 1994.

Zu den ersten von 49 Kleinfirmen, die aus dem Koloß Heckert- Kombinat die Flucht nach vorn antraten, gehört die Elektronenstrahl-Technologie GmbH (ETC). Ein Miniunternehmen mit 33 MitarbeiterInnen, von denen zehn mit Forschung und Entwicklung beschäftigt sind. Die ETC entwickelt und produziert heute für über 200 Kunden in der Automobilindustrie, im allgemeinen Maschinenbau und der Textilindustrie. Grundlagenforschung zu einer neuen Fertigungstechnik für Nockenwellen von Audi zum Beispiel hat die Firma fast vollständig aus eigener Kasse finanziert. Ein harter Brocken, summierten sich die Kosten über mehrere Jahre doch auf etwa die Hälfte eines Jahresumsatzes.

„Als Kaufmann“, resümiert Geschäftsführer Bodo Furchheim, „hätte ich sagen müssen: Stopp!“ Das Unternehmen konnte für die Forschung auf Förderprogramme nicht zurückgreifen. Erst wenn die Firmen über diese Grundstufe hinweggekommen sind, wenn sie konkret an einem neuen Erzeugnis arbeiten, stehen ihnen „hinreichend viele Programme zur Verfügung“. Furchheim: „Dann kann ich bis zu 40 Prozent der Entwicklungskosten zurückbekommen.“

Mancher verdurstet auf dem steinigen Weg der Grundlagenforschung, viele gehen ihn gar nicht erst. „95 Prozent der Firmen greifen zurück auf große Unternehmen, auf Forschungseinrichtungen und deren Entwicklungen. So wird Innovationspotential mittelständischer Firmen verschenkt“, sagt Furchheim. Er kennt das Vorurteil in dieser Förderpraxis: Die Kleinen können gar nicht forschen. Dabei gehören sie, mit den staatlich gestützten Denkfabriken, zum Kopf der „Innovations-Werk- Stadt“. Der andere Kopf hat nur noch historischen Wert, er steht vor dem Arbeitsamt, der „Nischel“, wie die Chemnitzer ihren denkmalgeschützten Karl Marx nennen.