Wir lassen lesen
: Ein wahrer Psychologe trat in die Ärsche

■ Wider den Mythos. Es lebe der Mythos: Jenrichs „Mönchengladbach“-Buch

Allein das Register! Dieses Register ist sehr fein. Stunden kann man darin zubringen. Kann hadern mit den teilweise strengen Verdammungen einzelner Kicker (Gores „erwies sich als wenig treffsicher und nur bedingt dribbelstark“) oder auch heftig geistig nicken („Köppel war ein begnadeter Fußballspieler – aber den ganz großen Druchbruch schaffte der verletzungsanfällige gelernte Bankkaufmann nie“).

„Borussia Mönchengladbach – Tore, Tränen & Triumphe“ – die vom Verlag geforderte Titel-Alliteration weist etwas ins Beliebige – ist ein Buch, aus dem man alles über den neuerdings wieder die Phantasie beschäftigenden Verein erfährt – und einiges über seinen Autor gleich noch mit. Holger Jenrich (36), promovierter Fußballexperte aus Münster und taz-Autor, treibt nicht nur ein gewaltiges Interesse für die Borussia, sondern auch eine lustvolle Statistik-Obsession. Da es Millionen bedauernswerter Geschöpfe ähnlich geht, ist das selbstredend die allerbeste Voraussetzung, ein erschöpfendes Werk zu schreiben.

Das Buch hat Stallgeruch, muß ja. Wer sonst sollte es schreiben? Es ist kein soziologischer Abriß entstanden (wie bei Dietrich Schulze-Marmelings Buch über Borussia Dortmund in derselben Reihe), sondern eine gewissenhafte Fußballgeschichtsschreibung. Kein Beruf fehlt, („Der gelernte Musterzeichner, der nach seiner aktiven Zeit bei der Mönchengladbacher Stadtverwaltung arbeitete“), keine Entwicklung, kein Detail. Wo der Fußball endet, hört das Leben hier nicht auf.

Jenrich hat alles gelesen. Und viele gefragt. Nicht großzügig drüberwischen, kleine Dinge entscheiden: Wer wüßte noch, daß der Fußballgott Turek ganz zum Schluß erstens für Borussia spielte, zweitens in vier miserablen Spielen 17 Tore kassierte?

Bisweilen drängt sich die handelsübliche Emphase vor, werden Dinge „unauslöschlich in den Annalen des deutschen Fußballs verzeichnet“ et cetera.

An anderer Stelle findet sich fast schon poetischer Realismus: „Nach zwei Herzoperationen hat Albert Jansen das Taxigeschäft, das er Ende der 50er Jahre begann, aufgegeben. Heute besitzt er in Mönchengladbach einen Kiosk.“

Mag der Autor erkennbar Borussia verfallen sein, so heißt das nicht, daß er für deren neue Protagonisten kritiklos hofberichtet. Insbesondere Rolf Rüßmann, der gerne als Schöpfer der neuen Borussia glorifizierte Manager, kommt nicht prima weg. Der Satz des interviewten Hans-Günther Bruns, Rüßmann sei „ein ziemlich linker Typ“ hat sich längst selbständig und Medienkarriere gemacht. Auch Helmut Grashoff, der Manager aus den goldenen und später auch den weniger goldenen Zeiten, mag seinen Nachfolger offenbar nicht.

Insbesondere diese Interviews aus den verschiedenen Epochen machen Geschichte lebendig. Da wird noch immer über den offenbar tatsächlich unsympathischen Überfußballer der frühen Sechziger, Albert Brülls, hergezogen („Ohne uns hätte er es doch nie so weit gebracht“). Oder es wird gestritten, ob vor all diesen Jahren zweimal die Hand im Spiel war – oder nicht („Das eine Mal war angeschossen“).

Den besten Satz darf ein Keeper aus den 60ern sagen. Auf die verbalen Finessen des Hennes Weisweiler angesprochen, antwortet Manfred Orzessek: „Hören Se auf damit, daß er ein Psychologe war! Der sagte immer: Wenn du nicht läufst, dann trete ich dich in den Arsch.“ So loben wir uns die Geschichtsschreibung. Wider den Mythos! Getreu dem kaiserlichen Motto: Wie es wirklich war.

„Während ihm in Gladbach zwei Treffer in 149 Begegnungen gelangen, schoß er für die Münchner Löwen in nur 14 Bundesligaspielen drei Tore.“ Wer? Hans Klinkhammer, wer sonst. „Wäre der gelernte Industriekaufmann nicht völlig ausgepumpt nach 90 Minuten runtergegangen“, hätte nicht wer welches „sagenhafte Tor“ geschossen? Damals im Pokalfinale, ihr wißt schon! Der Industriekaufmann war selbstredend Christian Kulik, der übrigens bis heute auch der Gladbacher Kicker „mit den meisten Europapokal-Einsätzen“ ist, Vogts hin oder Simonsen her.

Tja: Stunden könnten wir, wie gesagt, allein im Register zubringen. Diese Akribie! Nicht einmal die bemerkenswerte „Borussia im Himmel“-Aufstellung aus Jakob Arjounis Krimi

„Ein Mann, ein Mord“ fehlt. Allenfalls eine Erkundigung beim Verfasser, ob es nicht an der Zeit sei, die zu modifizieren. Effenberg für Bonhof? Andersson für Hannes? Kurz ist das Gedächtnis, schnell bei der Hand unreflektiertes Zugeständnis an halblebigen Zeitgeschmack. Gut, daß da ein Buch ist, das einen vor solch voreiligem Treiben bewahren kann. pu

Holger Jenrich: „Borussia Mönchengladbach – Tore, Tränen & Triumphe“. Verlag Die Werkstatt, 1995, 39,80 Mark