Alle anderen reisen weiter

Die Familie Perparim verließ aus politischen Gründen Albanien. Heute leben sie im einzigen Flüchtlingswohnheim an der Stadtgrenze von Bukarest  ■ Von Keno Verseck

In das Giurgiu-Viertel im Süden von Bukarest verirrt sich niemand, der dort nichts zu tun hat. Der Weg dorthin führt wie durch konzentrische Schichten: Vorbei an Bürgerhäusern, deren Fassaden an bessere Zeiten erinnern, vorbei am deutschen und, gleich daneben, am jüdischen Friedhof, vorbei an schiefen, scheinbar unendlich alten Neubaublocks.

Schließlich erreicht man die mahala, dieses typische Vorstadtdorf an den Rändern von Bukarest, wo Hundegebell und lärmende Nachbarn Tag und Nacht eine Geräuschkulisse bilden, wo Kinder in Obstkisten, an die ausrangierte Kugellager montiert sind, um die Wette fahren, wo das Schwein im Hof neben dem Bretterklo haust, und wo es heutzutage mehr Satellitenantennen als Wasseranschlüsse gibt.

Am Ende des Viertels, nur wenige hundert Meter von der Stadtgrenze entfernt, wohnt Perparim Demi mit seiner Frau Besa und den drei Kindern. Sie flohen im Januar 1991 aus Albanien nach Rumänien und sind seitdem hier, in der Tudor-Gociu-Straße 26, untergebracht. Es ist das einzige Flüchtlingsheim von Bukarest. Noch hundertzwanzig andere Menschen leben hier, aus Somalia, Nigeria, aus dem Irak, dem Sudan, aus Bangladesch, Indien und ... Sie alle warten darauf, weiterreisen zu können, in ein westliches Land, manche seit drei Jahren. Nur Familie Demi wird in Bukarest bleiben.

„Ich wollte weg aus Albanien“, sagt Perparim Demi. „Ende 1990 war ich Gründungsmitglied der Demokratischen Partei, deshalb bekam ich Schwierigkeiten mit der Staatssicherheit. Ich entschied mich zu gehen, weil ich kein Märtyrer sein wollte. Da kam die Gelegenheit mit dem rumänischen Visum. Es war für den Augenblick ein Ausweg, ein Entkommen. Hier, in Bukarest, war ich dann zum Beispiel bei der österreichischen Botschaft. Da kam so ein großer Mann mit strenger Erscheinung und fragte mich, was ich wolle. Ich sagte, ein Visum für Österreich. Er sah mich an, meinen Paß, und meinte, wir geben kein Visum. Dann fragte er, warum ich überhaupt ein Visum brauchte. Ich antwortete: Um zu emigrieren. Da sagte er: Nein! Es war ein Nein, als wenn dir jemand die Tür ins Gesicht schlägt.“

So blieb Perparim Demi mit seiner Familie in Bukarest. Er lernte schnell Rumänisch. Am Anfang arbeitete er bei syrischen Geschäftsleuten. Er bekam die Waren von ihnen, verkaufte sie und erhielt eine Kommission. „Drei-, viertausend Lei am Tag, das war damals sehr gut“, sagt er. Die Sprachkenntnisse und der Zufall verhalfen ihm zu einer Arbeitsstelle in seinem Beruf. Er nahm an einem technischen Seminar teil, hielt einen Vortrag über Technologien in der Eisenmetallurgie und bekam ein Angebot vom Institut für Metallurgie in Bukarest. Dort ist er heute Forschungsingenieur. Er verdient weniger Geld als vorher bei den Syrern. Aber er kann in seinem Beruf arbeiten. Was in Albanien nicht möglich wäre, denn eine Stahlindustrie gibt es dort nicht mehr. „Hier, in Bukarest, waren die Türen offener“, sagt Perparim Demi. „niemand hat gesagt: He, was machst du hier, hau ab!“

Nicht alle könnten das behaupten. Bukarest tut sich schwer mit seinen neuen Emigranten. Die meisten kommen illegal ins Land. Oder es ist für sie die letzte Station in Europa, wohin sie noch ohne Visum einreisen können. Ihr Ziel heißt nicht Bukarest, sondern Westeuropa. Rumänien ist selbst zu arm, um ihnen eine Perspektive zu bieten. Sie werden irgendwann aufgegriffen und abgeschoben. Oder sie warten, wie in der Tudor- Gociu-Straße, jahrelang auf eine Weiterreiseerlaubnis des UNO- Flüchtlingsbüros in Bukarest. Aber das darf keine Genehmigungen erteilen, solange es im Land kein Ausländergesetz gibt, mit dem Behörden die Asylanträge von Flüchtlingen entscheiden können.

Auch ausländische Studenten und Geschäftsleute, sofern sie nicht aus Westeuropa kommen, sind unter Bukarestern und Bukaresterinnen nicht sonderlich beliebt. Die Zeitungen schimpfen auf „Araber“, auf „minderwertige türkische Waren“, berichten reißerisch über den „Krieg zwischen den Zigeunern und der chinesischen Mafia“. Wer schwarz ist, wird in Restaurants schlechter bedient, wer Rumänen in gebrochenem Rumänisch anredet, hat automatisch Aids und deshalb in der Metro, im Bus und in der Straßenbahn immer einen Freiraum von mindestens anderthalb Quadratmetern um sich herum.

Alle in der Familie Demi könnten dem Aussehen nach auch Rumänen sein, und deshalb nennt sie niemand „Schlitzauge“ oder „Kohle“. Perparim Demi hat in vier Jahren perfekt Rumänisch gelernt und spricht es ohne Akzent. Er kennt die Geschichte des Landes und der Stadt besser als die meisten Einheimischen. Die Prüfung für die Staatsbürgerschaft, zu der auch Geschichtskenntnisse erforderlich sind, würde er mühelos bestehen. Vielleicht bekommt die Familie die Staatsbürgerschaft schon in ein paar Monaten. Dann könnte sie einen Antrag auf eine Wohnung stellen.

Hier, in der Tudor-Gociu- Straße, gibt es nur eine Gemeinschaftsküche und Gemeinschaftstoiletten. Das Essen wird für alle angeliefert. Ab und zu kommt ein Arzt vorbei. Taschengeld gibt es nicht. Arbeit ist schwer zu finden, noch dazu bei fehlenden Sprachkenntnissen. Die Kinder können in die Schule gehen, wenn sie wollen. Die meisten Erwachsenen sitzen den ganzen Tag herum. Die Männer spielen abends, wenn die Hitze nachläßt, im Hof Fußball.

Familie Demi wohnt in einem kleinen Zimmer. Da stehen vier Betten, ein Tisch, ein Schrank, ein Fernseher. Ein Waschbecken hinter dem Vorhang. Perparim Demi klagt trotzdem nicht. Er findet sogar, daß er hierher paßt, nach Bukarest. „Als ich herkam, merkte ich keine großen Unterschiede. Es schien mir, als würde ich die Rumänen seit langem kennen, ihre Lebensart, ihre Ausdrucksweise. Eben balkanisch, wie bei uns.“ Und was ist der Balkan? Perparim Demi lächelt augenzwinkernd. Er sagt: „Der Balkan hat die Konstruktion des Kapitalismus, so wie sie in Westeuropa geschah, nicht ausgehalten.“

Statt den Balkan weiter zu beschreiben, erzählt Perparim Demi von Deutschland, wo er einmal vor langer Zeit durchgefahren ist. „Es ist ein Land mit einem sehr disziplinierten Volk, ein Land der Ordnung. Selbst wenn ich dort Arbeit hätte, würde ich mein ganzes Leben ein Fremder bleiben. Hier werde ich angesehen wie ein Rumäne. Aber wer weiß, vielleicht gehen wir eines Tages wieder zurück oder noch in ein anderes Land. Ich würde gern die Niagarafälle sehen, den Nil oder die Stadt Brasilia.“