Die Tuberkulose ist die Krankheit der Armut: Sie tötet jährlich drei Millionen Menschen. In Washington nahmen WissenschaftlerInnen Pharmakonzerne und die Weltgesundheitsorganisation unter Beschuß: Die gefährliche Epidemie wäre medizinisch leicht und billig zu besiegen, aber das Geld fehlt. Von Manfred Kriener

Der globale Notfall

„Meine Wähler kriegen keine Tbc!“ Gleich dreimal tauchte dieses Zitat eines ungenannten Politikers in der Ansprache des Hauptredners Lee Reichman vom Tuberkulose-Center New Jersey auf. Dieser Spruch, der im Vier-Augen-Gespräch mit Reichman die Mittelkürzung für die Bekämpfung von Tuberkulose begründen sollte, ist für den US-Forscher symptomatisch für die amerikanische Gesellschaft und für die ganze Weltgemeinschaft. Er zeigt die tödliche Arroganz gegenüber einer der großen Gesundheitskrisen der Menschheit, die Ignoranz gegenüber dem „globalen Notfall“, wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Tuberkulose-Situation im März 1993 nannte.

Zwei Tage lang trafen sich vergangene Woche in Washington WissenschaflerInnen und Gesundheitsexperten aus allen Erdteilen, um sich der „Herausforderung der Tuberkulose“ zu stellen und Rezepte im Abwehrkampf „für das nächste Jahrhundert“ zu finden.

Die Wissenschaft hat die Tuberkulose lange vernachlässigt. Lorbeeren gab es auf anderen Feldern zu verdienen. Die Krankheit schien schon einmal unter Kontrolle, doch in den 80er Jahren begann ihr unheilvolles Comeback. Jetzt ist sie weiter auf dem Vormarsch. Der Ausbruch von Aids (ein schwaches Immunsystem ist besonders anfällig), die Zunahme von Obdachlosigkeit und Elend, die Flüchtlingsströme, der Mißbrauch von Tbc-Medikamenten und die leeren Gesundheitskassen haben Öl ins Feuer gegossen.

Die Krankheit grassiert nicht nur auf dem asiatischen und afrikanischen Kontinent: In 20 von 27 osteuropäischen Ländern nimmt die Tbc deutlich zu. Aber auch Dänemark, Frankreich, Italien, die Niederlande, Schweden und Großbritannien melden steigende Fallzahlen. Und selbst in der reichen, sauberen Bundesrepublik ist der seit Jahrzehnten beobachtete Rückgang gestoppt. Ist die Stagnation der Zahlen das Zeichen einer Trendwende auch bei uns?

Immer häufiger und lautstärker weist die Genfer WHO auf die dramatische Situation hin:

– Mit jährlich drei Millionen Toten ist die Tbc der „führende Killer unter allen Infektionskrankheiten“. Allein 300.000 Kinder werden dieses Jahr daran sterben. In den Entwicklungsländern gehen sieben Prozent aller Todesfälle auf das Konto der Tuberkulose. Bis 2010 wird die Zahl der Toten auf vier Millionen jährlich anwachsen.

– 1,8 Milliarden Menschen, ein Drittel der Weltbevölkerung, ist mit Tbc-Bakterien infiziert, in jeder Sekunde steckt sich ein weiterer Mensch an.

Und immer häufiger ist der Erreger gegen die Waffen der Mediziner resistent. Im südlichen Afrika werden ein Prozent „mehrfach-Antibiotika-resistente“ Erregerstämme gemeldet. In New York waren es bei Stichproben schon bis zu 20 Prozent. Zwei Dritteln dieser Patienten ist selbst mit ausgeklügeltsten Therapieformen nicht mehr zu helfen. Und wohin mit denjenigen, die mit jedem Husten und bei jedem Sprechen resistente Erreger in die Luft schleudern? Ansteckungen und Todesfälle beim medizinischen Personal häufen sich. Aber erst wenn sich ein weißer Gefängniswärter in Syracus mit einer mehrfach-resistenten Tbc ansteckt und stirbt, dann ist „die Tuberkulose heiß und sexy genug, um den Stoff für eine Titelseite der New York Times herzugeben“, giftete Reichman.

Auch die WHO bekam ihr Fett ab. Schon in der Eröffnungsrunde wurde den Genfer Gesundheitshütern vorgeworfen, falsch zu spielen. Sie riefen zwar einerseits weltweiten Tbc-Alarm aus und forderten mehr Geld für die Bekämpfung. Im eigenen Budget aber haben sie der Tbc die nötige Priorität verweigert. Ganze 800.000 Dollar, rechneten die WissenschaftlerInnen vor, habe die WHO aus ihrem eigenen Topf pro Jahr spendiert.

Noch heftiger geriet die Pharma-Industrie unter Beschuß. Seit 1966 hat sie keine einzige neue Tbc-Arznei entwickelt. Die Branche zeige Berührungsängste gegenüber einer Krankheit des Elends, bei der wenig zu verdienen sei. Weil Tbc- Kranke häufig zu den Ärmsten der Armen gehören, könnten sie die Medikamente nicht bezahlen. Falls also ein neues potentes Mittel auf den Markt komme, gerate die Firma unweigerlich unter moralischen Druck, das Mittel billig abzugeben. Um diesem Druck auszuweichen, werden vorsorglich lieber keine Medikamente entwickelt, obwohl es in bestimmten Stoffgruppen eine Reihe exzellenter Kandidaten gebe.

Reichman nannte Roß und Reiter. Der japanische Pharma-Konzern „Dainippon“ habe der US- Firma „Parke-Davis“ trotz hoffnungsvollster Labortests die Lizenz für das Medikament „Sparfloxacin“ verweigert. Die Japaner befürchten Absatz- und Profiteinbußen beim ursprünglichen Einsatz der Arznei gegen Bronchitis und Lungenentzündung, falls sie gleichzeitig den Makel eines Tbc- Mittels erhalte. Fast hilflos wurde auf dem Kongreß die „Bestrafung“ solcher Firmen verlangt.

Trotz der düsteren Zahlen konnten die ForscherInnen ein wenig Hoffnung verbreiten. In New York, dem „hot bed“ der US-Epidemie, ist die Tbc-Explosion gestoppt, die Krankenzahlen gehen seit zwei Jahren leicht zurück. Dennoch sind auch in den USA weitere Mittelkürzungen in den Gesundheitstöpfen zu befürchten – und damit neue Tbc-Epidemien. Keinen Zweifel ließen die WissenschaftlerInnen: Die Tuberkulose wäre trotz zunehmender Resistenzen beherrschbar. Sie ist, so die WHO, im Prinzip „leicht behandelbar“. Es komme allein darauf an, daß die Gesundheitsbehörden Geld, Ausrüstung und Know-how bekommen. Vor allem muß die personalaufwendige und kostspielige Überwachung der Arznei- Einnahme organisiert werden. Andernfalls werden 30 bis 40 Millionen Menschen in den nächsten zehn Jahren einen vermeidbaren Tod sterben.