SPD-Streit ohne Kultur

■ Die Traditionen dahin, nichts Neues in Sicht

Streit ist notwendig. Streit um Sachthemen, Streit um Personen. Bis heute geht in Deutschland politisches Harmoniebedürfnis mit Polarisierungswut zusammen, Streit, erst recht Streitkultur bleiben auf der Strecke. Daß Streit uns guttut, wußte schon Georg Simmel. Jede Gesellschaft, so konstatierte er 1908, braucht „ein quantitatives Verhältnis von Harmonie und Disharmonie, Assoziation und Konkurrenz, Gunst und Mißgunst, um zu einer bestimmten Gestaltung zu gelangen“. Was für die Gesellschaft gilt, gilt für die Parteien, also auch für die Sozialdemokratie. Die ehrwürdige Formel der Arbeiterbewegung, wonach „innen“ die Fetzen fliegen können, aber „nach außen“ Einheit gemimt werden soll, ist heute genauso lächerlich und undurchführbar wie die Mahnung, doch bitte ausschließlich um Problemlösungen und nicht um Personen zu streiten.

Nicht der Streit um die Person Rudolf Scharpings ist alarmierend, sondern daß nirgendwo eine Methode sichtbar wird, etwas daraus zu lernen. Früher hatte die SPD für diese Zwecke ein organisatorisches Korsett – die Parteipresse, Theoriezirkel, Schulen, und, wenn es nicht anders ging, die Parteitage. Das ganze Streitunternehmen funktionierte zentralistisch, denn die SPD, war, erst als „Klassenpartei“, dann als „Volkspartei“, stets auf gesamtgesellschaftliche Perspektiven orientiert. Streit um Personen wurde als Streit um Positionen interpretiert. Der Parteivorsitzende war, angetan mit August Bebels Taschenuhr, Gegenstand autoritärer Bewunderung, aber stand keinesfalls außerhalb des Streits. In der traditionellen sozialdemokratischen Streitkultur gab es Spielregeln, es wurde an-, häufiger noch abgepfiffen, und der Zusammenhang von Streit und Strategie blieb gewahrt. All das ist unwiederbringlich dahin, aber Neues ist nicht an seine Stelle getreten.

Statt dessen können wir beobachten, daß der Streit, wie weiland im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, von landesfürstlichen Machtpositionen aus geführt wird und daß regionale Interessen immer seltener „transzendiert“ werden. Heide Simonis gibt ihre klinischen Befunde über den Geisteszustand des Vorsitzenden von der Kieler Regierungskanzlei aus ab. Und Schröders Modernisierungsrezepte werden nicht nach ihrer Brauchbarkeit beurteilt, sondern sie gelten als Ausfluß seiner Machtposition in Niedersachsen. Nur Lafontaines territoriale Basis ist zu klein. Daher heißt es im SPD-Milieu: Gerhard Schröder in seinem Lauf hält auch Oskar Lafontaine nicht auf. Christian Semler