Begrabt mein Hirn an der Biegung des Flusses

Realitätsverlust ist der Titel einer Ausstellung in Berlin – manche sagen auch Wahlkampf dazu. Die Senatsmitglieder führen sich auf wie's DDR-Politbüro  ■ Von Wiglaf Droste

Hinterher muß man sich wieder das Gejaller anhören, das Geheule über „Politikverdrossenheit“ und „Wahlmüdigkeit“. Als ob es an der Kundschaft läge, daß die Sache schiefgeht, und nicht an den Anbietern. Einen Monat, bevor die Berliner am 22. Oktober ihre Kreuzchen für das 13. Abgeordnetenhaus machen sollen, ist die Stimmung flau: Wählen geht sowieso keiner, höchstens heimlich und vermummt, denn bei diesem Akt der Peinlichkeit möchte niemand gesehen werden.

Wozu auch? Wozu Leute wählen, die ihre Unfähigkeit und Unattraktivität ebenso hundertfach unter Beweis gestellt haben wie ihre Indolenz gegenüber jeder Kritik? Wozu Figuren in öffentliche Ämter hieven, die vergessen haben, daß Politiker Dienstboten sind, Personal, das man entlassen und auswechseln kann, wenn es nicht tut, wie ihm geheißen? Die chronisch ignorieren, daß sie nicht der Souverän sind, sondern Diener und Büttel, die man gut bezahlt, weil sich nun mal irgendjemand um Straßenverkehrs- und Gesellschaftsordnung kümmern muß?

Die sich selbst notorisch gute Zensuren ausstellen: „Wir haben dieses Land gründlich zivilisiert“, prahlte Antje Vollmer in der kastentypisch frechen Art, das eigene Fortkommen zum Fortschritt der Menschheitsgeschichte emporzujubeln. Und anschließend wird wieder das Händchen aufgehalten.

In Berlin klappt die Schnorrernummer seit ewig; derzeit versucht sich mal wieder jemand von der SPD: „Sie wollte es schon immer. Aber erst mit 52 Jahren hat sie sich getraut: SPD-Spitzenfrau Ingrid Stahmer ließ sich von ihrer Spandauer Stamm-Friseurin eine Dauerwelle legen. Kleine, süße Löckchen, wie sie Vorgänger Ditmar Staffelt hat. Sie ist begeistert: ,Man knetet die Locken und schüttelt den Kopf – fertig. Irre praktisch‘“, begeisterte sich SPD-Kandidatin Stahmer im Frühjahr in der Bild- Zeitung. Seitdem hat sie alles dafür getan, daß man in ihr ein Modell für mittlere Damen sehen kann. Ihre letzten Schlagzeilen machte sie im Sommer mit einem hitzebedingten Kreislaufkollaps und einer Dönervergiftung. Auf Plakaten wirbt sie „für eine bessere Politik“; wieso eigentlich nicht gleich „für eine schlechtere“? Das wäre immerhin weniger unoriginell.

Alternierend irre und praktisch ist auch der Kopf des Mannes, den die Sozialdemokratin Stahmer angeblich herausfordert: Eberhard Diepgen von der CDU nutzt seinen Kösel als Ständer für einen Indianerschmuck und posiert allöffentlich als „Häuptling Großer Bär“. Ob man das Lächeln, das er dabei aufsetzt, nur für bekifft oder direkt für meschugge halten soll, liegt im Ermessen des Betrachters.

Jedenfalls würde Diepgen, bekäme er nur Presse dafür, auch seine Verkehrspolitik bei Sitting Bull abschreiben: „Wir haben dieses Auto von unseren Kindern nur geliehen.“ Entsprechend lautet der Standardstoßseufzer unter den paar Berlininsassen, die sich von der sogenannten politischen Klasse überhaupt noch behelligen lassen: Begrabt mein Hirn an der Biegung des Flusses.

Diepgen, den die tantenhafte Wochenpost brav dafür liebt, daß er, wie der Alte Fritz quasi, sein eigener „erster Sachbearbeiter“ und überhaupt mächtig „kompetent“ sei, müßte sich über diesen Ruf selbst wundern: Schließlich ist das Ex-Mitglied einer schlagenden Verbindung bloß Berlins erster Propagandist. Und das mit zweifelhaftem Erfolg. Der Versuch, in Ermangelung auch nur einer einzigen politischen Idee, Berlin zur Olympiastadt 2000 zu machen, schlug 1993 hochpeinlich fehl.

Angesichts des Berlin-Botschafters Manfred Kanther wollten sich eben mal neun IOC-Mitglieder als Freunde Berlins outen. Da war die Mehrheit einmal klug und vorausschauend, arbeitet Innenminister Kanther doch mittlerweile als bekennender Herrenrassist, als eine Art Subunternehmer und Zuliefererbetrieb für Folterländer.

Mehr Glück hatte Diepgen allerdings mit dem Transfer der Panda-Bärin „Yan Yan“ von Peking nach Berlin, wo sie mit ihrem männlichen Kollegen „Bao Bao“ zwangsgepaart werden soll. Nachdem Diepgen im Flugzeug höchstpersönlich eine Möhre an „Yan Yan“ verfüttert und den Bewohnern der alten Reichshauptstadt versprochen hatte, daß es diesmal mit der Fortpflanzung der Pandas „garantiert klappen“ werde, stürzten zu Ostern 1995 an die 100.000 Bolle-Berliner in den Zoo, um bei der Panda-Peepshow zu spannen.

Gut möglich, daß Diepgen immerhin diese Wähler im Sack hat. Eine der CDU-Parolen jedenfalls lautet: „Diepgen hält Wort“, eine andere, auf der ein kuscheliger Braunbär zu sehen ist: „Berlin brummt.“ Ob der Regierende in dieser Chefsache persönlich Hand anlegen wird?

Alternativen zu dem mit Maskenbildner und Rhetoriklehrern mühevoll auf Staatsmann frisierten Diepgen, der das Wort „Chance“ nach wie vor wie ein Neuköllner Jogginghosenträger „Schangse“ ausspricht und da zu Hause ist, wo „Skatspieler stets willkommen“ sind, gibt es auf den ersten Blick nicht. Die FDP etwa fröschelt und spinnt: „Uffjepasst!“ warnt die Splitterpartei mit Bildern von schwarzen und roten Spinnen und roten und grünen Fröschen vor allen Koalitionen, in denen sie nichts mitzureden hat – als ob gerade das nicht wenigstens ein bißchen Freude in die geist- und trostlose Angelegenheit brächte.

Die Grünen/Bündnis 90, so hört man, soll es noch geben. Und diejenigen unserer Mitbürger aus dem Osten, die außer Dissidieren nichts gelernt haben und auf diesem Ticket seit Jahren sehr kommod reisen, sind inzwischen bei sich selbst angekommen, bei Helmut Kohl oder gleich der Jungen Freiheit.

Die PDS, die im Osten der Stadt bislang partiell weit über 30 Prozent der Stimmen bekam, verzichtet ebenfalls auf Politik und spreizt sich statt dessen als Gnadenbrotshop für geriatrische Dichter, brüstet sich mit erklärten Antikommunisten wie Zwerenz und behelligt die Welt mit der Stilisierung als Daueropfer der Gauck-Behörde. „Ein Mensch soll zerstört werden“, hört man es aus dem Karl-Liebknecht-Haus über den gelernten Melker Gregor Gysi schnulzen; PDS-Wahlkampfleiter André Brie hat außer seiner ehemaligen Tätigkeit für Stasi und KGB und seiner Fähigkeit, alles wegzubeißen, was nicht so sozialdemokratisch ist wie er selbst, auch noch Lebensweisheiten und Aphorismen zu bieten, die er unter dem bescheidenen Titel „Brieoritäten“ veröffentlicht.

Und singt am 23. September, gemeinsam mit Lothar Bisky, allerdings weit genug weg: in Erfurt. „Eintrittskarten können beim Landesvorstand der PDS erworben werden“, wirbt das Parteiblatt Neues Deutschland. Wer noch einen Grund braucht, diese Truppe von boring old farts nicht zu wählen, soll eine ihrer Kulturveranstaltungen besuchen, wo man das Degenhardtsche „Frieren vor Gemütlichkeit“ aus den sechziger Jahren wieder neu lernen kann: Familie Eigensaft schmort und schunkelt getreu der Losung: Die Geister, die wir riefen / sie miefen.

Wo die Politik verschwindet, triumphiert das Feuilleton. Nutznießer des Vakuums sind die Aktivisten der Spaßguerilla-Truppe KPD/RZ. Die „Kreuzberger Patriotischen Demokraten / Realistisches Zentrum“, so der Klarname, treten mit Forderungen an, die die Berliner Provinzpossenpolitik sympathisch unterlaufen: Ein „Rauchverbot in Einbahnstraßen“ wird im Falle eines Wahlerfolgs ebenso garantiert wie eine „Erhöhung der Hundesteuer um 700 Prozent“ für die von Kötern gequälte Stadt. Mit ihrem neuen Spitzenkandidaten Norbert Hähnel, bekannt als „der wahre Heino“, hat die KPD/RZ echte Chancen: Hähnel ist der einzige Bewerber für den Posten des Regierenden Bürgermeisters, der nicht den Charme einer Friteuse verströmt.

Berlin ist die Hauptstadt des Stillstands: Die Politiker der Stadt simulieren Politik, tun, als sei die Mauer noch da bzw. sehnen sich nach ollem Muff zurück: Ballina sein ist knorke und Programm, mehr muß man nicht verlangen.

Wer erwartet, dafür, daß er sich zum Stimmvieh macht, wenigstens charmant umworben und als intelligenzbegabtes Wesen angesprochen zu werden, kann das knicken. „Jede Propaganda hat volkstümlich zu sein und ihr geistiges Niveau einzustellen nach der Aufnahmefähigkeit des Beschränktesten unter denen, an die sie sich zu richten gedenkt“, schrieb 1925 Adolf Hitler – die Berliner Wahlkämpfer haben ausnahmslos von ihm gelernt.

Die Mitglieder des Berliner Senats führen sich derweil auf wie die des DDR-Politbüros in den späten Achtzigern: Sie kauern sich in einer Ecke zusammen, halten die Hände vor die Augen und rufen: „Keiner kann mich sehen!“ Sie stellen sich solange tot, bis sie es dann irgendwann endlich wirklich sind – aber selbst dann wollen sie noch nicht Ruhe geben.

Auf den Punkt bringt die Stimmung in der Stadt, kein Wunder, ein Zugereister: Der Neu-Star Funny van Dannen, 37jähriger Maler, Dichter und Sänger, sieht Berlin so: „Ein Mann fährt durch die Hauptstadt der Gefühle / Aber fahren ist zuviel gesagt, er steckt im Stau / Er schaut die ganze Zeit nervös auf seine Uhr / Und alle Ampeln stehen auf blau...“ – Oder, salopp gesagt: Berlin ist laut und dumm und stinkt – ist es ein Wunder, wenn man trinkt?