Mit der Kürbisflasche gegen das Böse

In Afrika sind jeden Tag Millionen Menschen davon überzeugt, von anderen verhext worden zu sein. Hexen erreichen ihr Ziel vor allem durch die Angst des Opfers. Sie können fliegen und essen Leichen. Sonst sind sie ganz normal.  ■ Von Sinikka Kahl

Eines Tages wurde Muiva Ndambuki verhext. Er sei sich da ganz sicher, sagt der 40jährige Vater von acht Kindern, denn seine Kopfschmerzen und sein Magenleiden wurden plötzlich immer schlimmer. „Es fühlt sich an, als ob jemand mit einem Metallstab in meinem Gehirn herumrührt“, beschreibt er seinen Zustand. „Ich muß mich ständig übergeben. Ich kann nicht schlafen. Ich ging ins Krankenhaus, und die Pillen, die sie mir gaben, halfen nicht. Da wußte ich es: das war Hexerei.“

In seiner Not wendet sich Muiva an eine erfahrene Wahrsagerin – eine alte Frau namens Moki Mutwota, die auf einem saftig grünen Berghang nahe der zentralkenianischen Stadt Machakos wohnt. Die rötlichen Wände der Lehmhütte sind von der Sonne ausgetrocknet und von Rissen durchzogen. Im Hof stapelt sich Mais, schläfrige Kälber verjagen mit ihren Ohren die Fliegen, Hühner laufen umher.

Moki, eine zurückhaltende Frau mit stiller Ausstrahlung, empfängt Muiva in ihrer Arbeitskleidung, einem schwarzen Umhang und bunten Ketten. Ihre „Klinik“ besteht aus einem Zimmer mit nackten Betonwänden. Das Licht fällt durch die halboffene Tür. Moki nimmt ein Saiteninstrument zur Hand und entlockt ihm einen tiefen, warmen Ton, um die Ahnen anzulocken. Dann, nunmehr in vollkommener Stille, schüttet sie aus ihrer Kürbisflasche magische Objekte auf den Boden: Nüsse, Muscheln und Glasperlen, die sie von ihrer Großmutter geerbt hat, die ebenfalls für ihre Fähigkeiten als Wahrsagerin berühmt war. Mit dem Muster, das diese Gegenstände ergeben, bestätigten Mokis Ahnengeister Muivas Verdacht: Es handelt sich um Hexerei.

Wer hat Muiva verhext? Der magere Mann mit dem ergrauten Haar hat nicht den geringsten Zweifel: „Es war ein Kollege auf der Baustelle bei Machakos. Er ist eifersüchtig, weil der Boß mich bevorzugt. Ich bin ein besserer Tischler, und das ärgert ihn.“ Der Mann, der ihn krank gemacht habe, sei ein typischer Hexer, sagt Muiva: ein etwas verschrobener Mensch, den niemand so richtig leiden kann. „Er ist ein Einzelgänger. Ein Außenseiter. Er kommt nicht von hier. Er stammt aus Kitui.“

Muiva Ndabukis „Reinigung“ in Mokis „Klinik“ findet in einer unspektakulären, alltäglichen Situation statt. Im Hintergrund sind die üblichen Geräusche eines beliebigen Wochentags zu hören: jemand hackt Holz, Stimmen erklingen, irgendwo bellt ein Hund. Einige Kinder, die nichts Besseres zu tun haben, kommen, um zuzusehen. In ihrer unkomplizierten, methodischen Art läßt Moki ihren Patienten Muiva sich setzen und wieder aufstehen, wobei sie die gleiche Stellung einnimmt und beide Körper durch die Bewegung ihres Zauberhorns einkreist. Damit soll das Böse aus Muivas Körper auf ihren eigenen gelenkt werden, denn sie ist dagegen immun. Dann ritzt Moki einige kleine Einschnitte in Muivas Stirn, Hände und Füße und reibt ein Heilpulver ein. Die ganze Zeit über macht Muiva geduldig mit, so, als befände er sich in einem Krankenhaus. Die Zeremonie kostet ihn ein Monatsgehalt.

Schließlich verspricht das Orakel in der Kürbisflasche Muiva Gesundheit und Wohlstand. Seine Anspannung löst sich, sein besorgter Gesichtsausdruck verschwindet, er lacht erleichtert. „Als ich das letzte Mal verhext war, hat Muivas Heilung mich für eine lange Zeit gesund gemacht“, sagt er.

Muivas Erfahrung ist in Afrika völlig normal. Wahrscheinlich sind jeden Tag Millionen Menschen überzeugt davon, von anderen Männern oder Frauen verhext worden zu sein. Wieder andere halten den Hexenglauben für rückständig, Regierungen sind dagegen, und Kirchen wollen ihn ausmerzen. Aber dennoch werden alle möglichen Mißgeschicke oft der Hexerei zugeschrieben: Autounfälle, Sterilität, Scheitern bei einer Prüfung, Liebeskummer, Mißernten, Seuchen.

Dabei handelt es sich nicht um ein Phänomen aussterbender Stammesgesellschaften: In modernen Städten glauben Angestellte in ihren Büros zwischen Computern und Faxgeräten, ihre schleppende Karriere leide unter der Hexerei eines Kollegen. Politiker in Anzügen und teuren Sportwagen, die durch die Metropolen der Welt touren, führen Wahlniederlagen auf Hexerei zurück. Wohlhabende Unternehmer lassen ihre Häuser von Wahrsagern schützen, um Hexenkünste eines Konkurrenten abzuwehren. Gläubige Christen und Muslime achten beim Haare- oder Nägelschneiden darauf, daß nichts liegenbleibt, weil die Reste von Hexen weggenommen und als Fetisch für Verwünschungen benutzt werden können.

Dem Volksglauben zufolge schaden Hexen ihren Opfern durch Verfluchen, Zeremonien und das Verwenden magischer Objekte. In Busia im Westen Kenias herrschte unlängst angstvolle Stille in einem Gerichtssaal, als auf dem Richtertisch verdächtige Gegenstände aufgereiht wurden: Tierzehen, Lumpen, Menschenhaare, Hemdknöpfe, Hörner, Asche, Münzen, Kräuter ... Talismane, Stoffstückchen, in die solche Gegenstände gewickelt werden, gelten als häufig angewandte Mittel der Hexerei, auch Kräutermixturen und Pulver. Sie werden im Haus oder auf dem Feld des Opfers versteckt oder auf einem Weg vergraben, den das Opfer gehen wird. Im Büro plaziert man sie in der Nähe des Schreibtischs des Opfers, um es faul oder streitsüchtig zu machen. Auf dem Fußballfeld vergräbt man den Talisman neben dem Torpfosten, damit der Ball immer daneben geht.

Hexen sollen auch Tiere losschicken – Fliegen zum Beispiel oder Fledermäuse –, um Böses zu bewirken. Und in vielen afrikanischen Völkern ist der Glaube verbreitet, daß jemand auch ohne irgendwelche „Werkzeuge“ verhext werden kann – mit dem berühmten „bösen Blick“, den man auch in Europa noch kennt.

In der südafrikanischen Provinz Nord-Transvaal wurde kürzlich ein 72jähriger Mann gesteinigt und verbrannt, weil er einen Blitz verursacht haben soll, der einen Jungen tötete. In Kitwe in Sambias Kupfergürtel wuchs sich eine Hexenjagd zu Straßenschlachten mit der Polizei aus, als letztere versuchte, eine Frau zu schützen, die angeblich einen Jungen getötet hatte, um dessen Intelligenz auf ihren eigenen Sohn zu übertragen. Als das kenianische Fußballteam „Gor Mahia“ nach Zaire reiste, wurden die Spieler bei ihrer Ankunft gründlich durchsucht: Es hatte Anschuldigungen gegeben, daß sie Siegesamulette bei sich trügen. Im Bürgerkrieg in Sierra Leone hat die mit der Regierung verbündete „Tama“-Miliz sich gebrüstet, eine Stadt erobert zu haben, indem ihre Kämpfer sich in Löwen und Leoparden verwandelten.

Hexenglaube ist nicht spezifisch afrikanisch. „Von Afrika bis in die Südsee, von Asien bis Amerika“ ist der Glaube verbreitet, schreibt der Ethnologe Philip Mayer. Jahrhundertelang wurden in ganz Europa „Hexen“ gejagt und auf Scheiterhaufen verbrannt – ein Feldzug, dem schätzungsweise neun Millionen Frauen zum Opfer fielen. Die letzte europäische Hexenverbrennung fand im Jahr 1782 in der Schweiz statt. Auch Phänomene wie der McCarthyismus in den USA sind mit Hexenjagden verglichen worden.

Der Hexenglaube ist weltweit so einheitlich, daß Anthropologen ihn zuweilen auf einen gemeinsamen prähistorischen Ursprung zurückführen. Hexenbildnisse gleichen sich frappierend bei so unterschiedlichen Völkern wie den Pueblo-Indianern in Mexiko und den Gusii in Kenia. Afrikanische Hexenerzählungen ähneln deutschen Volksmärchen und auch US-Horrorfilmen.

Was sind Hexen? Dem Glauben verschiedener afrikanischer Völker nach scheinen ihre allgemeinen Merkmale folgende zu sein: Hexen können fliegen. Sie graben Leichen aus, essen ihr Fleisch und tanzen nachts nackt auf Gräbern. Sie schlafen mit Tieren und sind inzestuös. Sie verspeisen ihre Kinder. Sie machen die seltsamsten Dinge – sie kommen nachts, nehmen den Kopf des Schlafenden, spielen damit Fußball und setzen ihn morgens wieder auf, ohne daß er es merkt. Sie laufen rückwärts oder auf den Händen. Wenn sie Durst haben, essen sie Salz, und zum Schlafen baumeln sie mit den Füßen von einem Baum.

All diesen Schilderungen ist eines gemein: die Hexen kehren menschliches Verhalten um, stellen die Normalität auf den Kopf. Sie sind alles, was normale Menschen nicht sind und nicht sein sollen. Sie sind der kollektive Alptraum der Gesellschaft und verkörpern ihre Ängste, aber auch ihre geheimen Lüste.

Trifft man jedoch auf eine richtige Hexe, unterscheidet sie sich nicht von anderen Personen. In Afrika, wie überall auf der Welt, werfen sich Leute gegenseitig Hexerei vor – besonders in kleinen, engen Gemeinschaften wie armen Dörfern oder Slumvierteln, wo es wenig Privatsphäre gibt und ständig Eifersucht und Anspannung herrschen. Derjenige, der zu Hexenpraktiken greift, ist meist kein Fremder, sondern jemand, den man kennt, der einem vielleicht sogar nahesteht und einem persönlich Böses will. Es kann ein Arbeitskollege sein, wie im Fall von Muiva Ndambuki. Es kann ein Nachbar sein. Oder die zweite Frau des Ehemannes. Oder ein Neffe, der auf sein Erbe wartet. Oder die eigene Mutter, der eigene Vater, das eigene Kind.

Im Stadtzentrum von Nairobi eilen emsige Krawattenträger mit Aktentaschen durch das Geschäftszentrum, Schaufenster bieten die neueste Mode und Computer feil, Sekretärinnen speisen in Pizzerien, internationale Organisationen konferieren in Hochhäusern. Und nebenan, in den etwas heruntergekommeneren Straßen, sind Werbeschilder für mgangas zu finden – die Wahrsagerinnen, die gegen Hexerei und andere Probleme helfen. Und noch ein Stückchen weiter, in den Slums, herrscht ein regelrechter Wahrsager- Boom.

Die „Klinik“ von Issa Namanda Lusambu, der „Professor Issa“ genannt wird, liegt in einem der besseren Slums. Triste Betonhäuser säumen enge, staubige Wege, aus den Müllhaufen steigt ein süßlicher Fäulnisgeruch, eine Ziege sucht nach etwas Eßbarem, junge Männer nippen an ihrer Cola vor einem Schuppen, aus dem Disco-Musik schallt.

Im Wartezimmer von „Professor Issa“ stehen weiche Sessel, die mit handgestickten weißen Spitzen bedeckt sind. Die Bildersammlung an den schmutziggrauen Wänden – holländische Windmühlen, Getreidesäcke aus internationalen Hilfslieferungen für hungernde Afrikaner und Rambo-Poster – interessieren den Mann nicht, der dort sitzt; er scheint entrückt. Plötzlich fällt er mit einem lauten Krach auf den Boden und schreit gequält auf.

„Er ist fast tot“, sagt Issa. „Wir müssen uns beeilen.“ Ein Assistent hilft ihm, den Bewußtlosen in einen kleinen, fensterlosen Raum mit roten Wandbezügen zu tragen. Hier liegen Kürbisflaschen, Fliegenwedel, von Muscheln bedeckte Beutel und andere magische Objekte auf einem Stapel in einer Ecke und muffeln vor sich hin. Der Assistent öffnet den Mund des Mannes, Issa träufelt eine Kräutertinktur hinein und legt ein mit geheimen Substanzen gefülltes quadratisches Ledertäschchen als Talisman auf seine Brust.

Plötzlich herrscht völlige Finsternis. Es rasselt: Die Kürbisflasche voller Nüsse und anderer Dinge wird geschüttelt, um die Ahnen herbeizurufen. Es klopft und schallt: Irgend etwas – irgend jemand – läuft auf allen Wänden herum. Es erklingen Stimmen – dünne, tiefe, kehlige und schwache Stimmen, von überall und nirgends: Issas Ahnen, die ihre Hilfe zugesagt haben, sind – heißt es – eingetroffen.

Dann gehen die Lichter wieder an. Bitterer Rauch hängt in dem Raum, als der Patient durch das Verbrennen von Kräutern wieder zu Bewußtsein gebracht wird. Issa zeigt ein Lehmtöpfchen vor – die Ahnen sollen es von dem Ort mitgebracht haben, von wo aus die Hexe ihr Opfer beeinflußt hat. „Nicht näherkommen!“ warnt er. „Es ist tödlich!“ Im Töpfchen, sagt er, befinden sich die Dinge, die den Patienten ins Unglück gestürzt haben – die seine vier Kinder töteten, die den Verlust seines Landes verursachten, die ihn unfruchtbar machten und ihn schließlich fast töteten: Talismane, Tierschädel, Insekten und einige unidentifizierbare Objekte in einem Häufchen rotem Sand. Der Patient – nun wieder bei Bewußtsein und in aufrechter Haltung – schreckt ängstlich zurück. Issa, ein modern anmutender Mensch in weißem Hemd und gelben Hosen, stupst einen kleinen Knochen: „Könnte ein Menschenknochen sein“, meint er. „Schlimme Sache. Man muß Blut drübergießen, um es zu neutralisieren. Wir werden ein Huhn opfern.“

Für die stärkste Form der Hexerei, so sagt man, werden menschliche Körperteile benötigt. „Die beliebtesten Körperteile, die in der Magie angewandt werden, sind die Genitalien, das Herz, das Gehirn und die Finger“, berichtet der Südafrika-Korrespondent der kenianischen Tageszeitung The Nation, Chris Erasmus. Aus Ländern wie Südafrika, Sambia und Botswana sind rituelle Morde bekanntgeworden, um sich diese Körperteile zu beschaffen. In Südafrika wurde ein halbtoter kleiner Junge gefunden, dem man die Genitalien und die Daumen abgeschnitten hatte. Beweise für solche Greuel sind jedoch sehr selten.

Manche Völker, wie die Tswana im südlichen Afrika, glauben, daß Hexen eine ganz bestimmte Substanz als Gift einsetzen. Aber in den meisten Fällen ist das wichtigste Werkzeug der Hexerei einfach die eigene Angst des Opfers. Auch Europäern, die in Afrika leben, passiert es, daß ihre anerzogene vermeintliche Rationalität plötzlich zerbricht.

„Ich stamme aus schwierigen familiären Verhältnissen, und in meiner Kindheit hat man mir oft Angst eingejagt“, sagt eine in Nairobi lebende Europäerin. „Einmal habe ich hier, in Kenia, ein Hausmädchen gefeuert. Als sie ging, drohte sie mir, daß ich keine fünf Jahre mehr zu leben hätte. Dann fand ich auf der Puppe meiner Tochter einen häßlichen schwarzen Lumpen – es sah aus wie etwas, das man zum Verhexen verwendet. Ich sagte mir: Du bist abergläubisch. Aber immer wenn dann etwas Unangenehmes passiert ist – mein Kind wurde krank, fremde Tiere schissen in den Waschraum –, ließ mich der Gedanke nicht los, daß die Hexerei tatsächlich funktionierte.“

Ausländische Ärzte können von Menschen berichten, die an der Angst vor Hexen gestorben sind. Manche verlieren jede Hoffnung, sobald sie davon überzeugt sind, daß sie verhext worden sind. Eine erkennbare physische Todesursache gibt es in solchen Fällen nicht.

Leben Afrikaner also in ständiger Angst? Nicht mehr als beispielsweise US-Bürger, die beim Straßenbummel die Möglichkeit eines Überfalls einkalkulieren, oder Europäer, die jederzeit mit einem Verkehrsunfall rechnen. „Wenn die Stunde des Unglücks schlägt, beginnen viele Leute, ernsthaft über Hexerei nachzudenken“, schreibt die Anthropologin Lucy Mair. Dazu gehört natürlich auch der Glaube, daß es möglich ist, anderen durch Hexerei zu schaden. Und im Einzelfall ist es oft eine Frage des Standpunktes, wer denn nun wen verhext hat.

Da ist zum Beispiel die Geschichte einer Kenianerin, in deren Getreidefirma sich plötzlich die Probleme häuften: ihre Lastwagen wurden in Unfälle verwickelt, ihre Bank beklagte sich über ihre hohe Verschuldung, alles lief schief. Ein Freund tippte auf Hexerei. „Um einen Dorn aus dem Finger zu pulen, braucht man einen zweiten Dorn“, erklärte er und riet: „Bekämpfe die Hexerei mit Hexerei.“ Die Unternehmerin beriet sich mit einer Wahrsagerin, die ein konkretes Angebot unterbreitete: Sie würde nicht nur die Hexerei aufheben, sondern auch die bösen Geister an ihren Urheber zurückschicken. So ist es oft schwer zu unterscheiden, wer bei einer Verhexung Täter und wer Opfer ist.

Hexen oder solche, die dafür gehalten werden, können arme Außenseiter, Krüppel oder Verlierer sein – oder auch das Gegenteil: eine Person, die einfach für den Mehrheitsgeschmack zu schön ist, zu intelligent, zu erfolgreich. „Die Leute trauen sich meistens nicht, ihre Fähigkeiten zu zeigen, indem sie ein besonderes Haus bauen, sich besonders anziehen oder besonders gute Schulnoten bekommen“, sagt ein Bewohner eines hexengläubigen Dorfes in der Nähe von Voi in Kenia.

Hinzu kommt, daß in ländlichen Bauernfamilien traditionelle Werte und Besitzverhältnisse noch lebendig sind. Das Land ist im Gemeinschaftsbesitz des Clans, es herrscht Gleichheit, das Teilen ist ein sozialer Wert. Wenn ein einzelner hier plötzlich untypisch erfolgreich wäre und sich über die örtlichen Verhältnisse erhebt – es wäre ungehörig. Der dem eigenen Fortkommen verpflichtete Individualist westlichen Stils könnte hier für eine Hexe gehalten werden.

Forschungen des „Lands Institute“ in Daressalam, der Hauptstadt Tansanias, kamen daher auch zu dem Ergebnis, daß der Hexenglaube im nordtansanischen Distrikt Handeni entwicklungsfeindlich sei. „Die Leute fürchten, daß sie im Falle des sozialen Aufstiegs entweder der Hexerei beschuldigt oder selber verhext werden“, sagt auch „Professor Issa“, der mit seinem Hochschulabschluß ein außergewöhnlich hoch gebildeter Wahrsager ist.

Der Hexenglaube gilt als typisches Merkmal vorwissenschaftlicher Gesellschaften, wo kaum rationale Erklärungen für Unglück und Krankheit zur Verfügung stehen. Aber warum ist er dann genauso in modernen Städten wie in von der Welt isolierten Dörfern zu finden? Die Antwort lautet vielleicht, daß der Glaube an Hexerei für viele Afrikaner auf das Problem des Bösen eine überzeugendere Antwort darstellt als die Weltsicht des Westens.

Diese unterschiedliche Sichtweise zeigt sich beipsielsweise, wenn schon die Frage nach dem Ursprung einer Krankheit auf zweierlei Arten gestellt wird – und sich auch die Antworten entsprechend unterscheiden. Auf die Frage: Warum wurde Muiva Ndambuki krank?, wäre die westliche Antwort, er habe sich einen Virus eingefangen oder sonstwie infiziert. Auf die Frage: Warum wurde Muiva Ndambuki auf diese Weise krank – und sonst niemand?, würde die westliche Antwort auf den Zufall verweisen. Dem traditionell denkenden Afrikaner würde da mehr einfallen: Muiva hat seine Vorfahren geärgert, oder andere Geister haben eine Hand im Spiel – oder es war Hexerei.

„Wenn etwas schiefgeht, fragt sich der Mensch immer: Warum ist mir das passiert?“, schreibt Professor John Mbiti, ein Spezialist für afrikanische Religionen. Der Hexenglaube gibt auf solche Fragen nicht nur eine Antwort, sondern bietet auch eine Lösung an.

Vielerorts in Afrika wird das durch Hexen und Geister verursachte Böse durch spezialisierte traditionelle Priester oder Wahrsager bekämpft. Ein kompliziertes Ritual ist dafür nicht immer erforderlich, wie der Fall Muiva zeigt.

Traditionelle Heiler wie Moki sind erfahrene Naturheilpraktiker und sensible Psychologen. Wenn sie Tricks anwenden, wie es bei „Professor Issas“ Ruf nach seinen Ahnen den Anschein hatte, heißt das nicht, daß sie nicht an ihre Kunst und das dazugehörige Weltbild glauben. Ihre Heilkunst bringt oft bessere Ergebnisse als die westliche Medizin.

Wahrsager heilen Opfer von Hexen, aber die Hexen selber können sie nicht austreiben. Dafür gibt es spezielle Hexenjäger. Einer davon, der im Jahr 1993 verstorbene Kenianer Juma Tsuma Washe, ist zu einer nationalen Berühmtheit geworden. „Kajiwe“, wie man ihn nannte, wurde gerufen, wenn in einem Gehöft Hexerei vermutet wurde. Er zeigte auf gewisse Stellen, und wenn man dort zu graben begann, fand man tatsächlich magische Objekte. Dann machte Kajiwe die für die Hexerei verantwortliche Person aus und urinierte neben ihr, um sie zu neutralisieren. „Viele Leute waren jedoch der Ansicht, daß die Beschwerdeführer Kajiwe vorher gesagt hatten, wen sie für den Verhexer hielten“, lästerte die Zeitung Standard.

Manchmal kamen Hunderte hilfesuchender Menschen zu Kajiwes Haus. Sein Aktionsradius umfaßte bald große Teile Kenias; er wurde so wohlhabend, daß er 53 Frauen heiratete. Er wurde Vater von zweihundert Kindern, denen er eine eigene Schule baute. Als die Regierung seinen Einfluß fürchtete, kam er für zwei Jahre ins Gefängnis.

Kajiwes Sohn und Nachfolger Suleiman Tsuma hat ein eigenes Hexenfindungssystem entwickelt: Der Verdächtige muß in der Gegenwart anderer Personen ein präpariertes Stück Brot schlucken. Wenn er beim Schlucken Schwierigkeiten bekommt, ist er schuldig. Andere solche Erkennungsmethoden sind gefährlicher und brutaler. In Sambia starben kürzlich fünfzehn Menschen durch die giftige Kräutermischung eines Hexenjägers.

Die Effektivität solcher Methoden ist schwer zu beurteilen, aber viele Beobachter haben sie in ganz unterschiedlichen Umgebungen bestätigt. „Einer meiner Angestellten war ein Dieb“, erzählt ein westlicher Diplomat aus seiner Zeit in Liberia. „Man holte einen Wahrsager. Als er mit seiner Zeremonie begann – Trommelwirbel und Blicke auf die Verdächtigen –, bekam der Schuldige solche Angst, daß er gestand.“ Der Hexenjäger erreicht die Hexe durch Furcht, genauso wie die Hexe ihr Opfer.

Nicht alle Hexen kommen mit einem Geständnis davon. Die traditionelle Strafe ist vielerorts die Vertreibung oder der Tod. Fälle, in denen angebliche Hexen ermordet werden, nehmen derzeit in mehreren afrikanischen Ländern zu. In Kenia wurden 1992 über dreihundert mutmaßliche Hexen gelyncht oder in ihren Häusern verbrannt. Auch in Südafrika wurden 1992 wieder mehr Hexen hingerichtet.

Die zunehmende Hexenjagd ist ein Zeichen der afrikanischen Krise. Auch in Europa war der tumultuöse Übergang vom Mittelalter zur Moderne durch Renaissance und Reformation eine Zeit der Hexenverbrennungen. Doch die europäische Hexenjagd war eine offiziöse Angelegenheit und Sache der Kirche, während die afrikanische Justiz oft nicht einmal Gesetzestexte über Hexerei zur Verfügung hat. Man kann in Kenia niemanden wegen „Hexerei“ verklagen, sondern nur wegen Körperverletzung oder Belästigung oder der „Intention, Angst zu erzeugen“. Die traditionellen Wege, mit Hexerei umzugehen – Hexenjagd oder Vermittlung durch die Ältesten –, sind im Verschwinden begriffen. Ihre Stelle nimmt die Lynchjustiz ein.

Die Debatte um Hexerei ist symptomatisch für die Art, wie viele Afrikaner mit dem Konflikt zwischen Neu und Alt in ihrem Leben umgehen. „Ein befreundeter, verwestlichter Professor hatte einen Streit mit jemandem in seinem Heimatdorf“, erzählt ein katholischer Missionar. „Man sagte ihm, daß man ihn verhexen würde und daß er sein Haus in Nairobi nicht mehr lebend erreichen könne. Er lachte und sagte: Ich glaube nicht an Hexerei. Dann stieg er in sein Auto und fuhr nach Nairobi. Aber den ganzen Weg schaute er immer wieder über seine Schulter, gelähmt vor Angst. Für viele Afrikaner ist es so, als sprächen sie zwei Sprachen, die westliche und die afrikanische. Man kann in beiden sprechen, aber nicht gleichzeitig. Zwischen den westlichen und afrikanischen Wertesystemen gibt es keine Synthese.“