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Auf der Suche nach sich selbst

Die sowjetische Umsiedlung zwang Rußlands Sámi zur Aufgabe alter Traditionen. Erst der Zerfall der Sowjetunion brachte ihnen neue Verdienstmöglichkeiten  ■ Von Songa Zekri

Tjommyj narod“, murmelt Zacharowa Petrowna, „ein dunkles Volk waren wir.“ Ungebildet seien die Sámi gewesen, gerade schlau genug, ein Kreuz unter einen Vertrag zu setzen. „Dumm waren wir, aber glücklich“, fährt die 81jährige versonnen fort, mit ihren Gedanken weit weg in der Vergangenheit des kleines Volkes – damals, als das Leben für die rund 2.000 Sámi auf der Kola-Halbinsel noch frei war, als sie mit ihren Zelten dem Weg der Rentiere folgten über die baumlosen Ebenen der Tundra, und als sie bergeweise Lachse fingen, genug, um satt zu werden und um noch etwas zu verkaufen.

Heute hat sie 50.000 Rubel im Monat zum Leben, das sind etwa 20 Mark, sitzt in einem Kittel auf ihrem wackeligen Bett, ein Taschentuch auf dem Kopf und die Brille mit Heftpflaster geflickt. Es ist schlecht geheizt in ihrem Zimmer, vor dem Fenster steht die Dunkelheit wie eine Wand.

„Ein dunkles Volk waren wir“, schimpft die Alte plötzlich, „und am dümmsten waren die Männer.“ Die fielen als erste auf die sowjetischen Schlepper herein, die Anfang der 60er Jahre in Warsina, dem Sommer-Dorf, auftauchten. Für die Vergrößerung von Siedlungsorten, die „Ukrupnenie“ – ein neutraler Ausdruck für Deportationen im Zuge der industriellen Erschließung des rohstoffreichen Nordens –, sollten die Sámi nach Lowosero ziehen. Dafür versprach man ihnen Wohnung und Arbeit, ein besseres Leben. Zacharowa Petrowna ahnte, daß etwas faul war, und wehrte sich bis zum Schluß. Alle Männer und die meisten Frauen waren schon fort, als man sie schließlich mit Gewalt verschleppte. Heute leben 600 russische Sámi in dem 3.000-Seelen- Dorf Lowosero, rund ein Drittel aller Sámi der Halbinsel.

Inzwischen weiß nicht nur Zacharowa, daß es ein schlechter Tausch war. Daß man dadurch jahrhundertealte Traditionen aufgab. Nur ein Gebäude in Lowosero sieht heute aus wie ein Zelt, aber es ist aus Ziegelsteinen – ein Hotel. Die wenigen verbliebenen Holzhäuser stehen in einer baufälligen Datschen-Siedlung, die jemand „Klein-Paris“ genannt hat. Selbstmord war die schnelle, Alkoholismus die langsame Flucht in den Tod nach der Umsiedlung. Inzwischen ist das Wodka-Sortiment in Lowosero fünfmal so groß wie das Gemüseangebot. Die Lebenserwartung liegt nach einer finnischen Studie bei 44 Jahren für Sámi- Männer, etwas höher für die Frauen. Jedes fünfte Kind kommt als Folge von Alkoholmißbrauch während der Schwangerschaft mißgebildet zur Welt. Von Gorbatschows Alkoholverbot hatte man sich Besserung versprochen, aber dann griffen die Suchtkranken zu Aceton und Spiritus.

Seit ein paar Wochen ist Lowosero um eine Attraktion reicher: Das Begegnungszentrum der Sámi, ein pastellfarbener Flachbau im Herzen des Dorfes, ist endlich fertig. Eine der ersten Besucherinnen ist Nina Scharschina. Sie hat ein eigenes Unternehmen für Sámi-Kunstgewerbe und näht auf den Nähmaschinen des Zentrums Puppen und Kleidung. Ketten, Handschuhe und kleine Taschen aus Fell hängen bereits an der kahlen Wand. Als sie vor zwei Jahren anfing, erzählt sie, war sie noch voller Hoffnung. Heute ist sie ernüchtert, das Unternehmen bankrott. Es ist schwierig, Käufer zu finden, denn Touristen verirren sich nur selten hierher. Und gebe es mal einen mageren Gewinn, lange die Steuer zu. „Im Sommer werde ich das Unternehmen wohl auflösen“, sagt sie mutlos. Einige der Halsketten, die Nina im Zentrum ausgestellt hat, zeigen tanzende Schamanen. Nina und ihr Bruder Jakow praktizieren heimlich die alten Bräuche der Naturreligion. Die anderen Sámi reden über die beiden hinter vorgehaltener Hand. Noch immer ist Schamanismus ein Tabu. Hier, im europäischen Teil Rußlands, wurden die Ureinwohner sehr viel eher und sehr viel nachhaltiger christianisiert als in Sibirien; die Stelle der Schamanen nahmen schon bald die orthodoxen Priester ein. Den Rest besorgten die Kommunisten, die den Schamanismus unter allen Urvölkern Rußlands blutig verfolgten.

Trotzdem haben sich die Sámi unter dem Deckmantel der Rechtgläubigkeit einige der alten Riten und Gebote bewahrt: „Gehe nicht ans Wasser nach 22 Uhr, du würdest es stören!“ – „Fährst du mit dem Schiff, wirf eine Münze ins Wasser, damit es den Weg freigibt!“ Für Nina und Jakow bedeutet die Rückkehr zum Schamanismus einen Schritt auf der Suche nach sich selbst.

Olga Anufreewa ist Direktorin der „TO Tundra“ in Lowosero, mit 40.000 Rentieren eine der größten Farmen auf Kola. Auf Fragen von Fremden antwortet die Sámi mit dürren Worten und einem breiten, ausdauernden Lächeln. 64 andere Sámi arbeiteten hier, läßt sie sich entlocken, vor allem als Rentier- Hirten. Ja, auch Plünderungen gebe es. Daß die Wilderer die Tierkadaver dann ohne Herz und Zunge liegen lassen, verschweigt sie ebenso wie die Tatsache, daß die Rentier-Hirten manchmal selbst nur knapp einer Kugel entgehen. Auch zur Höhe der Verluste will sie nichts sagen. „Das einzige, was hilft, ist wirtschaftliche Stabilität“, lächelt sie statt dessen.

Vor zwei Jahren ist die Sowchose „Tundra“ privatisiert worden. Außer der Entlassung von 20 Verwaltungsangestellten hat man davon kaum etwas bemerkt. Das soll jetzt anders werden. Olga Anufreewa blickt in die Zukunft: „Langfristig müssen wir uns um neue Technologien kümmern“, meint sie. Eine Milliarde Rubel, also heute etwa 380.000 Mark, hat das Finanzministerium ihr im letzten Jahr versprochen, knapp ein Drittel davon sind bislang in die Kassen der „Tundra“ geflossen.

Das ist ein Anfang, aber die wahre Perspektive sieht die geschäftstüchtige Direktorin jenseits der Grenze: Seit ein paar Jahren engagieren sich die Schweden in Lowosero. Hier ist das Futter besser, die Rentiere größer, das Fleisch von höherer Qualität. Der Verkauf von Lowosero-Rentieren lohnt sich für die Schweden: Das kräftig schmeckende Fleisch gilt in Stockholmer Restaurants als Delikatesse, während der Absatz in russischen Geschäften eher schleppend läuft. Im letzten Jahr führten die Schweden bereits 1.000 Tonnen Fleisch von 5.000 Rentieren aus. Für die Sámi-Direktorin geht die Rechnung auf: Die neuen Geschäftspartner haben einen chromblitzenden Schlachtwagen zu günstigen Konditionen nach Lowosero geschafft. Mit dieser neuen Technologie werden jetzt die Rentiere fast steril getötet. In Lowosero bleiben Knochen, Fell und Geweih – dafür haben die Schweden keine Verwendung.

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