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Die Bedingungen von Fragen

■ Der französische Erkenntnishistoriker Georges Canguilhem ist tot

Berlin (taz) – Wer Georges Canguilhem nicht kennt, hat Michel Foucault einmal gesagt, versteht nicht viel von dem, was sich in den letzten fünfzig Jahren in der Geschichte des Denkens abgespielt hat. Aus solchem Überschwang sprach auch der dankbare Schüler, dessen Ruhm den seines Lehrers lange in den Schatten gestellt hatte.

Canguilhem, der 1924 zusammen mit Sartre und Raymond Aron an der elitären Ecole normale supérieure promovierte, begründete die épistémologie historique, eine historische Erkenntnistheorie, die sich von einer bloßen Kritik der wissenschaftlichen Methoden ebenso weit entfernt hatte wie von einer linearen Geschichte der Entdeckungen. Canguilhem lehrte, daß man die Bedingungen aufklären müsse, unter denen Fragen erst auftauchen, Probleme formulierbar werden und Begriffe sich bilden können. Die Geschichte des Wissens konnte sich nicht länger damit bescheiden, von Erfolgen und Rückschlägen der Forschung zu erzählen. Sie mußte unvermutete Beziehungen zwischen verschiedenen Feldern des Wissens aufspüren. Sie mußte auch von den Normen und Werten sprechen, die den wissenschaftlichen Diskurs regelten. Canguilhem war durch seine Ausbildung – der Philosoph war auch Doktor der Medizin – für solch ein interdisziplinäres, Wissenssoziologie und Ideologiekritik vereinendes, Unternehmen vorbereitet. Seine berühmteste und folgenreichste Untersuchung über „das Normale und das Pathologische“ fragt denn auch nach den Bedingungen, unter denen wir ein Verhalten oder ein Erscheinungsbild als „gesund“ oder „krank“ beziehungsweise „abweichend“ wahrnehmen. Seine Pointe ist, kurz gesagt, daß das Pathologische nicht einfach als Abwesenheit oder Mangel an „Normalität“ oder „Gesundheit“ zu verstehen ist. Canguilhem ist der Entdecker der Krankheit und des kranken Körpers als sozialer Konstruktion. Ohne seine Studien wären Foucaults bahnbrechende Werke über „Wahnsinn und Gesellschaft“ und die „Geburt der Klinik“ nie geschrieben worden.

Er war aber nicht nur eine fachliche, sondern auch eine politisch- moralische Autorität: Er wurde früh Mitglied des Comité de vigilance der antifaschistischen Intellektuellen und spielte in der Résistance in der Auvergne eine wichtige Rolle. In das Klima des intellektuellen Lebens nach 1968, das ihm wesentliche Impulse verdankte, paßte der berüchtigt strenge Lehrer und gnadenlose Prüfer dann trotzdem nicht mehr so recht. Georges Canguilhem ist, wie erst jetzt bekannt wurde, am 11. September im Alter von 91 Jahren gestorben. Jörg Lau

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