Alles sah wie Leben aus

■ Eine Erzählung von Peter Wawerzinek über die "Käseglocke namens Prenzlauer Berg", beschrieben mit dem Blick des Renegaten, der einst um Einlaß in den Kreis gebuhlt hatte, den er nun schmäht

Es sieht so aus, als legte Peter Wawerzinek seine literarische Autobiographie auf Raten vor. Nach seinem Buch über eine Kindheit in Mecklenburg mit dem Titel „Das Kind, das ich war“, ein Motto aus Uwe Johnsons „Jahrestagen“, folgt nun eine Erzählung über den Dorfmenschen A., den es in die große Stadt verschlagen hat: „Mein Babylon“ heißt das neue Buch des vor zwanzig Jahren nach Berlin gekommenen Autors. Fern der Gefahr, den Helden mit seinem Erfinder gleichzusetzen, fallen die biographischen Parallelen ins Auge. A. nimmt den Weg, der typisch ist für viele, die der Ruhm der „großen Hure Babylon“ angezogen hat: Kunststudent, Friedhofsgärtner, Tischlergehilfe, Kraftfahrer, Schriftsteller schließlich und freiberuflicher Lebenskünstler. Babylon ist eine Stadt, ein Stadtteil und eine Lebensform: „Die riesige Käseglocke namens Prenzlauer Berg“.

A. stürzt sich ins Getümmel und lernt die Riten und die Eitelkeiten der „Szene“ kennen. Mit dem scharfen Blick des Renegaten, der einst um Einlaß in den Kreis gebuhlt hatte, von dem er sich später abwandte, geißelt er die Selbstverliebtheit und die Wichtigtuerei der Szene-Protagonisten: „In Babylon wurde viel gequasselt. Und nichts gesagt.“ A. quasselt vorerst mit, macht auf sich aufmerksam, „redet ungefragt dazwischen“ und dichtet Verse aus dem Stand. Er sucht eine Sprache, „die der Gemütlichkeit und Traditionspflege in ihre Weichteile“ tritt, und findet „seinen Schreibton in der Hoffnungslosigkeit seiner Umgebung“. Außerdem lernt A. seine „Gottheit“, die „Tänzerin“ kennen. Beides läßt ihn die babylonische Gefangenschaft vergessen: „Alles sah wie Leben aus. Man sprach miteinander. War sich einander Zentrum. Wechselte Mitteilungen im Verhältnis eins zu eins.“ In den großen Wohnungen der Szene- Helden finden Lesungen und Feste statt, in der Küche wird palavert: „Es waren dieses die besten Jahre.“

Langsam jedoch bekommt das Bild von Babylon Risse. Die Selbstinszenierungen der Dichter beginnen A. auf den Wecker zu gehen. Andere Dinge werden wichtig: A. wird Vater und muß sich um ein Auskommen sorgen. Er schaut immer mehr von außen auf das übersichtlich gewordene Treiben. Neben den Dichtern kommen dabei auch ihre Frauen schlecht weg: Die „Mädchen“ sind „Chargen, die unnachahmlich Aufmerksamkeit gackerten“, die „wie Models auf dem Laufsteg tippelten“, bloße Schatten ihrer Männer, die wiederum den Tag darüber vergrübeln, ob ein wichtiger Satz „mit einem Bindestrich, Semikolon, drei Punkten, einem Querstrich oder ganz ohne Satzzeichen ausklingen“ soll. Anders die „Tänzerin“ – doch das Glück mit ihr beginnt zu bröckeln und geht schließlich ganz in die Brüche. A. spielt Katz und Maus mit der Geheimpolizei und findet sich für kurze Zeit in einer Zelle wieder. Während die Paraden zum 40. DDR-Geburtstag von Endzeit künden, verlassen immer mehr Freunde seinen Dunstkreis in Richtung Westen. A. gelingt es, „ohne Babylon zu existieren“.

Die Prosa von Wawerzinek ist pointilistisch: kurze Sätze, manchmal zu Stichworten verkümmert, stehen wie zufällig nebeneinander und beleben Stimmungen und Erlebnisse. In den Kindheitserinnerungen des Autors, die im vorigen Jahr erschienen sind, ist es die Verzauberung des Blicks, die Perspektive des erzählenden Kindes, die das spröde Wortmalerial bindet. „Mein Babylon“ ist nicht mehr melancholisch, sondern der nüchterne Rückblick auf eine Zeit und eine Lebensweise, die vor Verklärung in Schutz genommen wird. Nach wie vor sind die Texte von Wawerzinek eine Fundgrube für schöne Sätze. Der schräge Blick auf die Wirklichkeit, die naive Distanz fängt Bilder von eindrücklicher Dichte auf. Dennoch, die Geschichte von A.s Erfahrung mit Babylon zieht den Leser nicht in ihren Bann, dem Erzählen fehlt die Sogwirkung. Ist es gerade der Wille zur Distanz und die scheinbare Abgeklärtheit, die Wawerzinek den poetischen Atem verschlagen haben? Vielleicht, so meine respektlose Vermutung, kommt das Buch des großen Wortzauberers um ein paar Jahre zu früh. Peter Walther

Peter Wawerzinek, „Mein Babylon“. Transit Verlag, Berlin 1995, 128 Seiten, 28 DM