■ Bafög-Reform und die Rückkehr der Hochschulpolitik
: Kalte Dusche – heißer Herbst?

Nach dem gescheiterten Bildungsgipfel 1993 wurde die Abwesenheit von Wissenschaftspolitik von den Regierungen und den Hochschulen relativ gleichmütig hingenommen. Man begann sich damit abzufinden, daß Deutschland trotz allen Standortgebrabbels dieses Feld ehrgeizigeren Konkurrenten räumen würde.

Überdies sind die Zeiten für Detailreformen ja nicht ungünstig: Wo immer der Staat seine Lenkungskompetenz gefährdet sieht, etwa in Haushaltsfragen, oder wo er seiner Verantwortung überdrüssig ist, vor allem im Inhaltlichen, können die Hochschulen ja kleine Autonomiegewinne erzielen. In gewissem Sinne sind wir ja dabei, Teile der Hochschulpolitik wieder zu „erfinden“ (Ulrich Beck).

Der Schönheitsfehler in der Hochschulinnenpolitik begann sich derweil zu einer Zeitbombe auszuwachsen. Schon seit Jahren ist die studentische Verarmung offensichtlich. Bei dem Hickhack um die 17. Bafög-Novelle ging es um die Fortschreibung des Modells. Dabei war die Erhöhung der Fördersätze ebenso wie die Förderquote (unter 25 Prozent der Studierenden) schon längst weit von jeder sozialen Kompensation entfernt. Niemand wollte dem „Modell“ die Chance der „Selbstheilung“ verbauen, den Weg, in die Hochschulpolitik zurückzukehren, blockieren. Aber die Binsenweisheit, daß keine Hochschulreform auch nur in Angriff genommen werden kann, bevor die studentische Unterhaltssicherung befriedigend gelöst würde, ist den meisten Akteuren entgangen, und die wenigen Warner spielten allenfalls eine moderierende Rolle.

Der Wonnemond des allseits mit Vorschußlorbeeren bedachten Ministers Rüttgers währte nicht lange. Seit Beginn der anschwellenden Bafög-Diskussion wartete man auf ein klärendes Wort aus Bonn. Die Initiative mußte vom Bund ausgehen, damit den Ländern ein einigermaßen abgestimmtes Angebot gemacht werden könnte – der umgekehrte Weg einer koordinierten Länderinitiative in diesem Feld war bisher völlig außer Reichweite. Rüttgers dementierte standhaft, daß man in seinem Haus überhaupt über Ausbildungsförderung konstruktiv nachdachte, und doch wußte jeder, daß eine Ausarbeitung folgen mußte, wollte er die Initiative nicht der Opposition, allen voran den Bündnisgrünen und dem Deutschen Studentenwerk überlassen.

Als Rüttgers dann vor einigen Wochen in die Presse ging, war die allgemeine Überraschung groß. Was hatte man eigentlich erwartet? Daß der Minister ein konsistentes Bafög-Reform-Modell vorlegen würde? Das kann ja gar nicht sein Interesse sein, weiß er doch genau, daß der Einigungsprozeß mit den Ländern und mit den Hochschulen einen Preis hat, der nur als Kompromiß ausgehandelt werden kann. Alles konzentrierte sich auf die unsinnige Verzinsungsformel und das Privatbankengeschäft des Rüttgers-Modells. Dabei hat man übersehen, daß er zwar keineswegs gute Politik angeboten hatte, aber politisch gut in Szene setzte, was er wollte: Ab jetzt ist die Bafög-Diskussion mit dem Komplex der Studiengebühren untrennbar verknüpft, und zugleich hat der Minister die Minderausstattung im Hochschulbau nicht bloß anerkannt, sondern zu einem Instrument gemacht, wenigstens die Hochschulen und Wissenschaftsorganisationen von ihrer ablehnenden Haltung gegenüber seinem Modell abzubringen.

Das bedeutet keineswegs, daß Bafög von der Tagesordnung gestrichen gehört oder daß jemand von der Forderung abgehen dürfte, die studentische Grundsicherung vor allen anderen inhaltlichen Reformschritten zu sanieren. Die Fronten der Auseinandersetzung haben sich jedoch nachhaltig verschoben. Eine genaue Lektüre der SPD-Bafög-Modelle und der Äußerungen des zuständigen Parteidenkers Glotz lassen einen breiten Kompromißkorridor mit dem Grundkonzept von Rüttgers erkennen. Andererseits bieten die Ausbildungskassenmodelle der Bündnisgrünen, sofern sie denn bald vereinheitlicht werden, den Vorteil, die studentische Grundsicherung und die Hochschulfinanzierung in einen generationsübergreifenden Zusammenhang zu bringen, ohne gleich auf den populären Zug der Studiengebühren voll aufzuspringen. Das Deutsche Studentenwerk hat sich im übrigen mit einem eigenen Modell ein Stück in beide Richtungen bewegt, aber mit dem Bestehen auf einer Leistungskomponente beim studentischen Grundeinkommen eine gefährliche Vermengung der sozialen und der hochschulpolitischen Sphäre befördert.

Man ist ja schon dankbar, daß eine kalte Dusche einen aus der unwürdigen Lethargie aufschreckt, diese Form von Dankbarkeit wird Herr Rüttgers gerne entgegennehmen. Aber man soll sich im Überschwang der Kritik nicht die Finger verbrennen, wenn ein heißer Herbst das Gebot der Stunde ist. Der wird zunächst keine noch so „machtvollen“ Demonstrationen brauchen können, solange nicht klar ist, gegen wen und vor allem wofür sie sich eigentlich ausrichten. Die Temperatur kann nur steigen, wenn alle verantwortlichen Hochschulpolitiker, die Wissenschaftsorganisationen und die Angehörigen der Hochschulen sich eines klar machen: Die Instrumente zu einer Neugestaltung der Hochschulpolitik liegen deutlich wie lange nicht zutage, sie müssen nur anders angeordnet werden, als sich Bund, Länder und Standesorganisationen das vorstellen.

Deshalb müssen wir darauf bestehen, daß die studentische Grundsicherung vorgezogen wird und dann die Schwerpunkte Hochschulfinanzierung, Studienreform, Personalstruktur und Hochschulorganisation zeitgleich in Angriff genommen werden, bis es einen Plan zur schrittweisen Operationalisierung gibt. Kein neuer Bildungsgipfel, sondern eine bis in die letzte Veranstaltung der Hochschulen wirkende Diskussion über das, was wir wollen, und das, was wir fordern, ist angesagt. Wir müssen dabei immer nur bedenken, daß die Finanznot der öffentlichen Hände auch dann eine Tatsache bleibt, wenn sie von der Wissenschaft und den Hochschulen nicht primär verschuldet ist, und wir müssen uns darüber im klaren sein, daß wir mit der Hochschulpolitik nicht zugleich alle anderen Probleme der Gesellschaft lösen können.

Dann liegen nicht nur die Instrumente, sondern auch genügend Vorschläge für konkretere Formen zutage, und wir müssen nicht gleich alles neu erfinden. Vor einem sei gewarnt: Wer die Diskussion auf Studiengebühren und Mitbestimmung reduziert, der wird sich unversehens mit einem konservativen Kassenschlager konfrontiert sehen. Dann werden den Studentinnen und Studenten Studiengebühren im Tausch gegen Mitbestimmung angeboten – sie tragen ja dann eine weit höhere Verantwortung. Michael Daxner