Bürokratischer Notstand

Das japanische Konjukturprogramm ist mit 200 Milliarden Mark das größte aller Zeiten, versäumt aber die Chance einer Strukturreform  ■ Aus Tokio Georg Blume

Das Dutzend ausländischer Journalisten, das gestern Mittag in der 12. Etage des Tokioter Finanzministeriums Platz nahm, war wie immer handverlesen: ein freundlicher Händedruck, eine scherzhafte Begrüßung – so exklusiv pflegen Nippons Topbürokraten ihre spärlichen Kontakte mit den internationalen Medien selbst an dem Tag, an dem sie der Welt das Ende der japanischen Rezession erklären wollen.

Seit Monaten hatten Ökonomen in aller Welt auf diesen Tag gewartet. Daß nämlich in Japan in diesem Jahr wirtschaftlich so ziemlich alles schief gelaufen war, was schieflaufen konnte, war keinem von ihnen entgangen. Unter dem Eindruck von Yen-Aufwertung, Börsenknick, drohender Deflation und Rezession stellte sich die Frage: Was unternimmt die Regierung der zweitgrößten Wirtschaftsmacht? Darauf gaben die Bürokraten im Tokioter Finanzministerium gestern ihre vorerst letzte Antwort.

Denn mehr kann nicht mehr kommen: 14,2 Billionen Yen, über 200 Milliarden Mark – diese Summe für das am Mittwoch vorgestellte Konjukturprogramm sprengt tatsächlich alle bisherigen Dimensionen. Die Beamten, die sie verantworten, schmunzelten stolz: „Es handelt sich um das größte wirtschaftliche Maßnahmenpaket der Geschichte“, verkündete ein Chefbürokrat des Finanzministeriums, dessen Name wie üblich nicht genannt werden darf. Dabei meinte er wohl die japanische Geschichte, hätte aber wohl auch von der Weltgeschichte sprechen können. Nicht einmal den Deutschen kam die Einheit in einem Jahr so teuer zu stehen wie den Japanern heute ihre Rezession. Mit der Milliardenspritze soll Japans Volkswirtschaft ab sofort um zwei Prozent schneller wachsen.

Doch hier endet auch schon das Spiel mit den Superlativen. Denn was Nippons Finanzbeamte dieser beeindruckenden Summe von öffentlichen Ausgaben an konkreten Programmen zur Seite stellten, war für die meisten Beobachter schlicht enttäuschend. „In den Maßnahmen der Regierung steckt nicht einmal mehr der Versuch einer Strukturpolitik“, sagte Jesper Koll, Chefökonom der US-Bank J. P. Morgan in Tokio. Was fehlte, waren vor allem die erwarteten Deregulierungsprogramme und eine Steuerreformen, von denen sich Ökonomen eine langfristige Belebung der Verbrauchernachfrage in Japan versprechen. Statt dessen teilte die Regierung vor allem den von ihr traditionell begünstigten Bereichen Landwirtschaft und Bauindustrie neue Gelder zu.

Verständlich werden die Maßnahmen erst, wenn man sich in die katastrophale Situation dieses Frühsommers zurückdenkt. Damals wähnten sich die japanischen Finanzbehörden kurz vor dem Systemkollaps: Der Yen war auf Rekordhöhen zum Dollar gestiegen und belastete die japanische Exportwirtschaft so stark, daß in Tokio die Aktienkurse in den Keller sanken. Das Aktientief aber vermehrte die ohnehin schwelende Krise der japanischen Banken, die seit dem Spekulationsboom der 80er Jahre faule Kredite in der Höhe von annähernd tausend Milliarden Mark vor sich herschieben. Hier lauert eine Art Bermuda-Dreieck für das japanische Finanzwesen. Da nämlich den japanischen Banken erlaubt ist, ein Großteil des Eigenkapitals über ihren umfangreichen Aktienbesitz auszuweisen, ist das Vermögen der Banken unmittelbar vom Börsengeschehen abhängig. Nicht umsonst bezeichnete der Londoner Economist im Juni die japanische Finanzkrise als das größte Problem der Weltwirtschaft, und nicht umsonst setzten die Tokioter Bürokraten in dieser Zeit alle Hebel in Bewegung.

Das Ergebnis ist nun freilich eine Art Notstandsprogramm für die Konjunktur, das wenig überlegt erscheint: Ohnehin senkte die japanische Zentralbank in diesem Monat bereits den Leitzins auf die Rekordtiefe von 0,5 Prozent. Dadurch strömt Geld von festverzinslichen Papieren an die Börse, die dadurch indirekt gestützten Aktienkurse scheinen schon heute ihr denkbar höchstes Niveau erreicht zu haben. Hat die Regierung in Tokio also mit dem jetzigen Konjunkturprogramm bereits ihren letzten Trumpf gespielt?

Die Börse schien es gestern so zu verstehen: Obwohl die angekündigten Regierungsmaßnahmen noch die tollkühnsten Erwartungen des Vortages übertrafen, sank der Tokioter Nikkei-Aktienindex am Mittwoch um unübersehbare 275,74 Punkte auf einen Abschlußwert von 18198,64 Punkten. „Die Aussichten der japanischen Wirtschaft sind heute besser als je zuvor in den letzten Jahren“, versuchte Premierminister Tomiichi Murayama die Tagesstimmung zu retten. Doch der ohnehin von Rücktrittsgerüchten geplagte Regierungschef konnte mit seiner offensichtlich übertriebenen Einschätzung die Sache nur noch schlimmer machen.

Auch im einzelnen betrachtet ließen sich die Konjukturmaßnahmen kaum zu einer kohärenten Politik zusammenbringen. Allein annähernd 50 Milliarden Mark will die Regierung mit Landaufkäufen für die Stützung der Immobilienpreise ausgeben, die in den Metropolen Tokio und Osaka für die geschäftliche Nutzung noch in diesem Jahr um bis zu 17 Prozent sanken. Die Regierung versucht also nichts anderes, als eine Preisdecke in einen Markt einzuziehen, der sich weiterhin im freien Fall befindet. Private Ökonomen halten das nicht nur für ein äußerst teures, sondern auch wenig erfolgversprechendes Wagnis.

Ganz klein nehmen sich dagegen die Maßnahmen aus, die eine gewisse Zukunftsorientierung versprechen: Nur sechs Milliarden Mark stellt das Konjunkturprogramm für Neuinvestitionen im Erziehungs- und Hochtechnologiesektor zur Verfügung. Dagegen erhält die Bauindustrie, die in einem engen Land wie Japan ohnehin begrenzte Wachstumschancen hat, knapp 70 Milliarden Mark. Die Landwirtschaft erhält immerhin noch 16,5 Milliarden Mark.