VS-Akten verstauben unbeschnüffelt

■ Wer in seine Verfassungsschutzakte schauen darf, wird auch nicht schlauer / Recht auf Akteneinsicht des rot-grünen Senats von Großer Koalition wieder eingeschränkt / Nur noch wenige Anträge auf Einsicht

Der Berliner Verfassungsschutz speichert Daten von mehreren zehntausend Menschen. Doch obwohl eigentlich jeder seine Akte einsehen kann, wollten letztes Jahr nur noch 68 Personen im Blattwerk der Schnüffler wühlen – das geht aus dem neuen Verfassungsschutzbericht hervor. Vor vier Jahren waren es noch zehnmal soviel.

Für Renate Künast, bündnisgrünes Mitglied im Berliner Abgeordnetenhaus ist klar, warum das Interesse an den Akten gegen null tendiert: Sie glaubt, die Akteneinsicht sei zur „Frustsache“ geworden. „Große Teile der Akten sind geschwärzt, andere Teile sind herausgenommen. So kommen sich die Leute abgeschreckt oder veräppelt vor.“

Der Verfassungsschutz selbst sieht das naturgemäß ganz anders. Insgesamt „positiv“ bewertet der Sprecher des Berliner Amtes das Verfahren der Akteneinsicht. „Wenig ist geheim, einiges vertraulich“, schätzt er die Datenlage ein. Betroffene hätten „mehr als einmal“ Lob für die Art der Akteneinsicht gespendet. Allerdings kann der Berliner Verfassungsschutz alle Daten zurückhalten, die von den Alliierten, befreundeten Geheimdiensten oder von Schlapphüten anderer Bundesländer gesammelt wurden. Und natürlich dürfen „Geheimhaltungsinteressen“ der Landesbehörde nicht berührt werden.

Das führt zu grotesken Situationen. Der frühere grüne Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele beantragte Akteneinsicht, als die Vernichtung seiner Daten drohte. „Ich weiß, daß die einen halben Meter Papier über mich haben“, sagt der Rechtsanwalt. „Doch sehen durfte ich dann nur zwei magere Folianten. Zu 90 Prozent bestanden die aus alten Zeitungsartikeln über mich. Und in den Artikeln waren fast alle Namen geschwärzt – aus Datenschutzgründen.“ Seit knapp einem Jahr untersteht der Berliner Verfassungsschutz nicht mehr dem Skandal-Innensenator Heckelmann. Zuständig ist inzwischen der Regierende Bürgermeister. Der Chef der Senatskanzlei, Volker Kähne, hat eine ganz andere Theorie, warum niemand mehr die Akten sehen will. „Zuerst gab es einen Berg von Interessenten“, erinnert er sich. „Doch heute“, so glaubt Kähne, „ist der Berg abgearbeitet und existiert nicht mehr.“

Mit großen Hoffnungen hatten die Grünen zu Zeiten der rot-grünen Koalition das Recht auf Akteneinsicht durchgesetzt. Skandale um die Bespitzelung von Journalisten, Anwälten und Politikern hatten die Berliner Verfassungshüter Ende 1988 schwer in Bedrängnis gebracht. Der Fall des V-Mannes Telschow wurde zu einem bestimmenden Thema des Berliner Wahlkampfes von 1989. SPD und Grüne einigten sich auf die Einrichtung eines „Ausschusses für Verfassungsschutz“ im Abgeordnetenhaus, der grundsätzlich öffentlich tagt. Außerdem wurde das Recht auf Akteneinsicht eingeführt.

Die große Koalition schränkte diese Errungenschaften wieder ein. So muß seit 1992 ein „besonderes Interesse an einer Auskunft“ dargelegt werden, will man in seine Akte schauen. Die Behörden legDie offenen Akten sind „ein schlechter Witz“

ten das neue Gesetz so restriktv aus, daß am Ende jeder Antragsteller darüber Auskunft geben sollte, in welcher extremistischen Gruppierung wann und wo mitgearbeitet wurde. 1993 geißelte der Berliner Datenschutzbeauftragte die Handhabung des Gesetzes als eine „Aufforderung zur Selbstbezichtigung“. Nach dem Protest wird das Gesetz heute etwas großzügiger ausgelegt.

In den Augen von Renate Künast hat die neue Politik dennoch eines bewirkt: die Entmythologisierung des Amtes an der Clayallee. Die gesammelten Daten bezeichnet sie als „einen Haufen Schrott, der nicht einmal vernünftig ausgewertet wird“. Insofern wundert sie das nachlassende Interesse an den Akten wenig. „Es hat sich herumgesprochen, daß der Verfassungsschutz auch nur mit Wasser kocht“, bilanziert sie.

Hans-Christian Ströbele tröstet das nicht. Für ihn sind die Akten, die er einsehen konnte, ein schlechter Witz. Selbst der Verfassungsschutz räumt Fehler bei der Bearbeitung von Ströbeles Antrag ein. Und so ist das Recht auf Akteneinsicht für den Politpromi inzwischen zu einer „Pervertierung einer ehemals gutgemeinten Idee“ geworden. Immerhin wurde ihm zugesichert, seinen Fall erneut zu prüfen. Doch das dauert. Zuständig im Landesamt für Verfassungsschutz sind mehrere Fachreferate – die „Arbeitsgruppe Auskunft“ wurde bereits im März 1994 aufgelöst. Christoph Dowe