Übersinnliche Kräfte und moderne Kunst

■ "Okkultismus und Avantgarde" - ein Vortrag und eine Ausstellung über den Okkultismus in der modernen Kunst

„Ich bin der Anfang von allem“, sagte der Maler Kasimir Malewitsch bescheiden. „Das ist der verbindende Satz zwischen Okkultismus und Avantgarde“, erläuterte Walter Kugler, Mitherausgeber der Rudolf-Steiner-Gesamtedition, in seinem Vortrag „Okkultismus und Avantgarde“ im Bücherkabinett in der Bleibtreustraße am 16. September 1995. Denn sowohl der Okkultismus, die Lehre von der Wahrnehmung übersinnlicher Kräfte, als auch die moderne abstrakte Kunst setzten sich mit dem Nichterfaßbaren auseinander, mit dem, was unsere fünf Sinne überfordere, so Kugler.

Aber Malewitschs Ausspruch sei nicht die einzige Verbindung zwischen Okkultismus und Avantgarde, meint Kugler. Im Gegenteil: Der Einfluß des Okkultismus auf die Entstehung der modernen Kunst war sehr groß, ist aber in Vergessenheit geraten. Deswegen hatte Veit Loers, Direktor des Fridericianum in Kassel, unter der Mitarbeit von Kugler zwischen dem 3. Juni und dem 20. August 1995 eine Ausstellung unter dem Titel „Von Munch bis Mondrian 1900 bis 1915“ in der Frankfurter Schirn organisiert und rund 700 Exponate zusammengetragen, darunter Werke von František Kupka, Wassily Kandinsky, Michail Larionow, Kasimir Malewitsch, Robert Delaunay und Piet Mondrian. Die Ausstellung und der Vortrag Kuglers sollten daran erinnern, daß bis in den Ersten Weltkrieg hinein Künstler, die an der Abstraktion arbeiteten, ohne ihre Beschäftigung mit dem Okkultismus nicht denkbar gewesen sind. Erstaunlich, denn die beiden Begriffe scheinen überhaupt nicht zusammenzupassen: Zur Avantgarde gehören nach dem heutigen Verständnis die Vorreiter, die progressiven Denker. Okkultismus gilt für den Zeitgenossen der 90er Jahre hingegen als eine Lehre über merkwürdige Phänomene, die von Spinnern im kleinen Kämmerlein gepflegt wird, aber bestimmt nicht als etwas, daß richtungsweisenden Einfluß hat.

Anfang des Jahrhunderts war das anders. Die modernen Künstler beschäftigten sich damals erstmalig eingehend mit dem nichtsinnlichen und mit der Wahrnehmung übersinnlicher Kräfte, also mit dem Thema des Okkultismus. Sie stellten Fragen nach dem Wesen der Seele, des Todes und der Worte. Sie glaubten an die Existenz eines weiteren Raumes, einer anderen Dimension. „Die Grenzen unserer Erkenntnis sind nicht die Grenzen der Realität“, das war laut Kugler eine der Hauptthesen innerhalb der Avantgarde. Durch die Abstraktion versuchten die Künstler, ihre Empfindungen und das nicht Wahrnehmbare wiederzugeben. Die Ausstellung in Frankfurt behandelte dann auch folgende Themen: Die Suche nach dem Ich und nach den Gesetzen, die den Menschen geschaffen haben; die Stellung des Mensch in der Evolution; der okkulte Einfluß auf die Architektur, das Theater und den Tanz. Hier waren auch Arbeiten Rudolf Steiners zu sehen, unter anderem sein Entwurf „Goetheanum I“, sowie seine Theorie zur Eurythmie, dem Ausdruckstanz.

Steiner hat viele der ausgestellten Künstler mit seinen Anfang des Jahrhunderts in München gehaltenen Vorträgen fasziniert, so auch Kandinsky. Kugler führt als Beispiel Steiners Wiederbelebung der Goetheschen Farbenlehre an: Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurden die Farben allein nach physischen Aspekten beurteilt. Für Steiner hatte dagegen jede Farbe eine eigene qualitative Bestimmung. Grün erinnere an den eigenen geistigen Ursprung, weswegen diese Farbe in der Natur jedes Jahr wieder für eine bestimmte Zeit verschwinde, während Schwarz die Farbe der Freiheit sei. Steiner schöpfte aus seinen eigenen starken Imaginationen, die er zuerst in Formen und Farben erlebte, bevor er sie in Worte umsetzte. Für Steiner war das Auge nicht nur ein physisches Gebilde, sondern ein Organ, daß erst zusammen mit der Seele des Betrachters funktionieren kann. Diese Gedanken waren für die Künstler wichtig und neu.

Auch die Funktion des Zeichnens erklärte der Anthroposoph: Das Wort sei von „Zeichen“ abzuleiten. Ein Zeichen löse Emotionen aus, im Gegensatz zum Symbol, welches nur einen Inhalt übermittle. Das Zeichnen, also die Produktion von Zeichen, habe damit eine reinigende Wirkung auf den Menschen, denn dieser drücke seine Gefühle aus. Nina Kaden