Geschichte abbummeln

Aus einem einzelnen Projekt mit sozialgeschichtlichem Anliegen ist ein riesiger Markt geworden: Organisierte Stadtspaziergänge in Berlin  ■ Von Cristina Nord

Städte muß man sich erlaufen, die kann man nicht erfahren“, meint Frau Böttner aus Münster, nachdem sie an einer StattReisen-Führung über Immigration in Kreuzberg teilgenommen hat. Frau Karg aus der Nähe von Heilbronn zieht einen Rundgang der Rundfahrt ebenfalls vor, und Uwe aus Heppenheim sagt: „Es schärft ja die Sinne, auch für zu Hause.“ Aber nicht nur TouristInnen, auch BerlinerInnen nehmen die Möglichkeit wahr, ihrer Stadt laufend näherzukommen.

Stadtspaziergänge in Berlin — was 1983 ganz klein mit dem StattReisen-Projekt begann, hat sich mittlerweile zu einem schwer überschaubaren Markt ausgewachsen: 35 AnbieterInnen, teils Ein-Personen-Unternehmen, veranstalten an jedem Wochenende bis zu 50 Touren.

Die TeilnehmerInnenzahlen schwanken zwischen 30 oder mehr bei Dauerbrennern wie Führungen zur jüdischen Geschichte und drei bei abseitigeren Themen. Die Statistik von StattReisen ermittelt 13,7 BesucherInnen pro Tour zu allen erdenklichen Themen – hochgerechnet ergibt das fast 660 Menschen, die allein samstags und sonntags unter Anleitung durch die Stadt spazieren.

Wer also will, kann sich von Berlins selbsternannter Sexpertin Laura Méritt „von Sinnenfreuden, Lastern und Sittlichkeit“ erzählen lassen (artefakt), kann der Führung „Die Friedrichstraße: 3,3 Kilometer Baustellenbummel“ (art:berlin) folgen, um sich mit der zukünftigen Architektur im Bezirk Mitte vertraut zu machen, oder kann sich Alfred Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“ nähern, indem er „Mit Franz Biberkopf durch den Wilden Osten“ streift (StattReisen).

Wer Besinnlichkeit vorzieht, kann mit Rosemarie Köhler bei einem „Kulturhistorischen Friedhofsspaziergang“ die Gräber von Gottfried Benn und Erich Mühsam auf dem Waldfriedhof Zehlendorf besuchen, und wer von der „Männergeschichte“ die Nase voll hat, möchte vielleicht mit Frauentouren dem Alltag der Arbeiterinnen im Prenzlauer Berg nachspüren oder „300 Jahre Frauenspuren im Sophienviertel“ erkunden.

Ob es sich um Stadtgeschichte, Kieztouren mit Gegenwartsbezug oder Ausflüge in die Zukunft Berlins handelt — die Vielfalt der Themen ist enorm. Doch die Qualität läßt oft zu wünschen übrig. Für die Agenturen, die auf eine langjährige Arbeit zurückblicken können — StattReisen, Kultur Büro Berlin und art:berlin — bedeuten neue Unternehmen wie artefakt oder GehWerk nicht nur eine unliebsame Konkurrenz. Bemängelt wird auch, daß sie durch schlechte Führungen Stadtrundgänge insgesamt in Verruf bringen.

So beklagt Ulrich Kratz-Whan vom Kultur Büro, „daß speziell im letzten halben Jahr enorm viele neue, kleine, meist Einmannunternehmen auf den Markt gedrängt sind, die nach unseren eigenen Überprüfungen auch qualitativ bei Stadtführungen ein falsches Bild entstehen lassen“. Abgeschreckt von einer unerfreulichen Tour blieben die potentiellen SpaziergängerInnen zukünftig lieber gleich ganz zu Hause.

„Das ist das Zosch“, heißt es vorm Zosch

Tatsächlich gibt es große Qualitätsunterschiede. Von den Führungen, an denen ich teilgenommen habe, hat sich eine als veritables Debakel erwiesen. Das Programmheft von artefakt verspricht einen „städtebaulichen Entdeckungsrundgang“ unter dem Titel „Schrägste Meile von Berlin“.

Ursula Jahr, die, wie es später im Büro des Veranstalters heißt, kurzfristig und unangemeldet für die eigentliche Stadtführerin eingesprungen sei, schreitet die Strecke vom Friedrichsstadtpalast bis zu den Hackeschen Höfen fast ohne Pause ab. Sie redet im Gehen, und was durch den Straßenlärm an die Ohren dringt, ist dürftig. Als wir vor dem Café Zosch stehen, heißt es: „Das ist das Café Zosch.“

In einem dunklen, engen Hinterhof macht sie auf eine „romantische Holzwendeltreppe“ aufmerksam. Kein Wort zu den prekären Lebensbedingungen, die in der Spandauer Vorstadt herrschten, nichts über das soziale Gefüge dieser Gegend. Statt dessen erfahren wir: „Das erinnert an Kleinstädte in Polen und Rußland, und die Leute, die ja aus Kleinstädten in Polen und Rußland kamen, haben sich hier richtig wohl gefühlt.“

Jahr, die nach eigenen Angaben „schon seit geraumer Zeit“ Stadtrundfahrten betreut und im Viertel groß geworden ist, verfällt damit genau dem verklärenden Blick auf die Vergangenheit, den die Stadtführungen mit ihrem Anspruch, Sozialgeschichte zu illustrieren, eigentlich brechen wollen.

Andere Führungen sind mit Daten und Namen überfrachtet, wieder andere wollen ihr Thema allzu sehr auf aktuell trimmen, so etwa der Frauentouren-Rundgang „Sagenhafte Frauen in Alt-Berlin und Alt-Cölln“, den Claudia von Gélieu leitet. An der Rathausbrücke in Mitte berichtet sie — sehr interessant — von den Kindsmörderinnen, die vom 16. bis zum 18. Jahrhundert an dieser Stelle hingerichtet wurden. Der Verweis auf die aktuelle Abtreibungsdebatte am Ende jedoch ist allzu bemüht.

Problematisch ist es auch, auf ausgelöschten Spuren zu wandeln. Bei dem Rundgang „Jüdische Salons. Von der Biedermeierstube zum literarischen Salon“ (KulturBüro Berlin) zeigt Christa Westermann den Platz in der Jägerstraße, wo einst das Wohnhaus Rahel Varnhagens stand. Aha. Michael Bienert, seit 1990 StattReisen- Führer, sucht in solchen Fällen „raffinierte Anknüpfungspunkte“. Schon ein altes Foto kann die „fehlende Verbindung“ zwischen Schilderung und Stadtbild ja leicht herstellen.

Stadtstücke ihrer Geschichte zuordnen

Ein Glücksfall von Führung ist die Tour „Berliner Lichtspiele. 100 Jahre Kino zu Fuß“ von StattReisen. Ralph Hoppe zeigt zunächst ein Sex-Kino am Breitscheidplatz, um dann davon zu sprechen, daß ein voyeuristisches Bedürfnis schon in den Filmen der 20er Jahre bedient wurde. Unter dem Deckmäntelchen der Aufklärung boten Streifen wie „Die Prostitution“ viel Haut und freizügige Szenen.

Hoppes Rundgang gehört zu den wenigen, die tatsächlich etwas anderes leisten als ein Vortrag oder die Lektüre eines Buches. Das, was im Laufe der Führung wahrgenommen wird — seien es architektonische Details, verblichene Schriftzüge oder brachliegende Flächen —, prägt sich ein, weil Hoppe es jeweils einem Stück Stadt- bzw. Kulturgeschichte zuordnet.

Die Unterschiede zwischen den „zahmen“ Kinos am Breitscheid- oder Nollendorfplatz und den „wilden“ Kinos in der Münzstraße bilden eine Linie, anhand derer sich die Polemik um das neue Medium in den 10er und 20er Jahren nachzeichnen läßt: Die Kluft zwischen dem Bildungsbürgertum, das die Filmpaläste besucht, und dem neuen, großstädtischen Massenpublikum des „Kintopps“ wird vor Ort verhandelt und macht mehr als nur Kinogeschichte greifbar.

Die Stadt, von den TheoretikerInnen des Urbanen längst als unwirklich gebrandmarkt, gibt so eine ihrer Facetten preis und wird für die drei Stunden, die Hoppes Führung dauert, tatsächlich im Laufen erfahrbar.

Telefon StattReisen: 455 30 28; Kultur Büro Berlin: 444 09 36, artefakt: 281 21 50, art: berlin: 215 98 68.