„Es ist ein dornenreicher Weg“

Wie aus der Stadthagener Sofafirma Schlüter ein Anthro-Betrieb wurde, auf dessen Ökosofas man härter, aber gesünder sitzt. Auf die Bewußtseinskrise folgte eine komplette Umstrukturierung des Familienbetriebes  ■ Von Burkhard Straßmann

Ein lustig buntes und ziemlich hartes Sofa war der Star der letzten Kölner Möbelmesse: das „Ökosofa“ der Firma Schlüter. Nur aus nachwachsendem Stroh, gesunden Komponenten und politisch einwandfreiem Holz baut der Stadthagener Traditionsbetrieb seine „Farmhouse“-Produktlinie. „Schlüter, das sind jetzt so Ökos“, sagt man daheim an der Porta Westfalica. Tatsächlich wurde der Betrieb innerhalb von drei Jahren auf ziemlich dramatische Weise umgestellt. Viele Jahre lang hatte Schlüter gediegene Schlafsofas hergestellt. Die Zahlen stimmten, Geld wurde verdient, man hatte einen Namen. Doch 1992, pünktlich zum 100. Firmenjubiläum, stürzte das Unternehmen in eine künstlich herbeigeführte Krise, die fast den Ruin bedeutete. Der Ratgeber für die Roßkur: Rudolf Steiner.

„Es war“, sagt der Chef heute, „eine Bewußtseinskrise“. Eine Bewußtseinskrise des Unternehmers Wolfgang Schlüter, der 1992 auch noch fünfzig Jahre alt wurde. Mürrische Arbeiter, hoher Krankenstand, große Fluktuation einerseits; Wachstum werweißwohin, Verarbeitung gesundheitsschädlicher und energiefressender Rohstoffe andererseits – mußte das alles so bleiben? Der 150-Mann-Betrieb ging in die Bremse, hielt an und dachte nach: zum Beispiel über „inneres Wachstum“ oder Sätze wie „Krebssysteme führen zum Tode“. Die Kundschaft schüttelte den Kopf. Die Banken strichen Kredite. Der Umsatz ging um 25 Prozent zurück.

Ein Besuch beim Sofabauer in Stadthagen bestätigt: Es hat sich nicht nur mental etwas geändert. Der erste Eindruck in der Fabrik am Stadtrand: Es ist hell hier und riecht gut. Wo es ging, wurden Lichtschächte und verglaste Durchbrüche installiert. Mit etwas gutem Willen kann man aus der Lehrlingswerkstatt am einen Ende bis in die Lohnbuchhaltung am anderen sehen. An den Wänden, auch in der Produktion, bunte Aquarelle. Blätter mit wichtigen Worten wie „Sinn, Ziel, Grundsatz, Leitbild“ hängen an zentralen Orten. In der Halle bei den Meisterbüros und in der Verwaltung fallen große runde Tische auf, daneben „Flip Charts“, große Schreibtafeln, wie sie in Managerseminaren benutzt werden. Die Umsatzzahlen '94 hängen in Schlüters Büro aus, versehen mit Stichworten wie „Fertigungstiefe, Stundenverrechnungssatz, Verwaltungseffizienz“. Es sieht so aus, als würde hier immer und überall und von jedem Firmenmitglied über die Situation des Hauses nachgedacht.

Wolfgang Schlüter, gelernter Holzbetriebstechniker und Innenarchitekt hatte während seiner Studienzeit die Anthroposophie entdeckt. Nach dem Eintritt in die Firma, im Jahre 1978, hat er den Umsatz fast versiebenfachen können. Doch die Mängel der Betriebsstrukturen (und der gewaltige Schaumstoff- und Hartfaserplattenausstoß eines Sofaherstellers) führte schließlich zum Entschluß, einen anthroposophischen Unternehmensberater einzuschalten. Schlüter rief das NPI an.

Das Nederlands Pedagogisch Instituut (NPI) ist ein erfolgreich operierendes Unternehmensberatungsinstitut, das seit 40 Jahren weltweit Betriebe nach einem anthroposophischen Manager-, Menschen- und Wirtschaftsbild auf neue Gedanken bringt. Solche Institute (in Deutschland zum Beispiel BGO-Beraterverbund für Gegenwartsfragen und Organisationsentwicklung, in Österreich die Trigon-Entwicklungsberatung) zählen zu ihren Kunden BMW, Mercedes, Shell, Philips, Opel und Telefunken. Neben ausgefeilten Konfliktlösungsstrategien haben diese Einrichtungen die Steinersche Ganzheitslehre anzubieten: Außer Körper und Geist hat der Mensch noch eine Seele, und auch die braucht Nahrung. Also werden Manager und Mitarbeiter hier nicht nur in Kommunikation und Konfliktlösung trainiert, sondern sie malen auch, töpfern und hüpfen rhythmisch herum. NPI bildet sich einiges darauf ein, daß sich nach seinen Seminaren Manager Malkästen kaufen.

Im Familienbetrieb Schlüter entstand Unruhe. Rudolf Steiner? Damit brauchte man Vater Otto Schlüter nicht zu kommen. „Steiner war ein jüdischer Kommunist!“ tobte er; was Schlimmeres gab's nicht in Stadthagen. Doch Wolfgang Schlüter setzte sich durch. Arbeit bei Schlüter, das war ab sofort und in erster Linie „Leitbildarbeit“. In zahllosen Einzelgesprächen versuchte der Chef, seine Mitarbeiter („Der Alte spinnt!“) von der Notwendigkeit der Leitbildarbeit zu überzeugen; ganze Wochenenden und tagelange Seminare wurden dafür angesetzt. Die Fragen: Welchen Sinn hat unsere Arbeit außer Geldverdienen? Welche Ziele verfolgt das Unternehmen in Zukunft? Heraus kamen „die zehn Gebote“ oder „das Grundgesetz“ für die nächsten hundert Jahre Schlüter. „Unser Unternehmensleitbild“ ist eine auf braunem Papier gedruckte Sammlung von Wahlsprüchen („Wir wollen die Firma Schlüter als Familienunternehmen erhalten ... Wir gestalten unsere Arbeitswelt als Lebens- und Entwicklungsraum ... Unser Unternehmen ist mitverantwortlich für die Lebensbedingungen auf der Erde ...“). Die Broschüre wird gern an die Kunden verteilt.

Mitarbeiterbeteiligungsmodelle wurden diskutiert. Ein Lohnsystem wurde ausprobiert, das sich am jeweils aktuellen Gewinn orientierte. Doch immer, wenn Gewinn und Lohn zurückgingen, gab's Ärger mit der Belegschaft. Mittlerweile haben Geschäftsleitung und Mitarbeiter einen „Sicherheitspakt“ geschlossen: Der Unternehmer garantiert ein festes Einkommen auf hohem Niveau (ca. 10 Prozent mehr als branchenüblich); dafür sichern ihm die Mitarbeiter einen bestimmten Sofaausstoß pro Tag zu. „Ich brauche pro Tag 130.000 Mark, das ist meine Sicherheit, wenn es weniger wird, renne ich hin zu den Leuten.“

Getreu seiner Devise: „Führen, fordern, fördern“ hat Wolfgang Schlüter zusätzlich eine indirekte Art von Gewinnbeteiligung eingeführt: die Mitarbeiterförderung. Der Satz aus dem Unternehmensleitbild hat etwas Väterliches: „Mitarbeiterentwicklung ist Unternehmensentwicklung. (...) Die Förderung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist unsere Form der Beteiligung am Unternehmenserfolg. Das Unternehmen verpflichtet sich, den dafür notwendigen Anteil vom Gewinn bereitzustellen.“ Konkret heißt das, daß zur Zeit jährlich etwa eine Viertelmillion für die „Mitarbeiterentwicklung“ zur Verfügung gestellt wird. Das können Seminare zur „Biografiearbeit“ sein oder Volkshochschulkurse, gemeinsame Theaterbesuche oder Reisen in die Anthroposophenzentrale Dornach. Mehrere Mitarbeiter, denen ein Partner gestorben war oder das Kind, bekamen das Angebot, zu ihrem Problem BGO-Seminare zu besuchen. Schlüter irritiert: „Einige sind dort hingefahren, erstaunlicherweise wollen es aber nicht alle.“

Wolfgang Schlüter sieht selbst die Gefahr, als Missionar übers Ziel hinauszuschießen: „Man neigt als Pionier zum Zwang. Manchmal hilft eben alles Überreden nichts – es gibt Mitarbeiter, die wollen hier offenbar nur ihr Geld verdienen. Einige denken sogar, wir hätten eine Sauerei mit ihnen vor.“ So eine Haltung macht ihn traurig, bremsen kann sie ihn nicht: „Wer sich hier nicht entwickeln will, hat es schlechter als woanders.“ Wer sich bei Schlüter bewirbt, muß mit dem Leitbild einverstanden sein. Das bezieht sich sogar auf seine Kinder, die ihr Interesse an der Firma bekundet haben. In einem Interview sagte Schlüter 1994: „Wenn sie sich nicht dem Leitbild verpflichten, mögen sie wegbleiben und können nicht die Generationsfolge antreten.“

Alles wird erneuert, sogar der Rausschmiß. Selbst er bekommt bei Schlüter ein freundliches Gesicht. „Es kann auch sein, daß man einen Mitarbeiter aus der Unternehmung herausführt, aber nicht schmeißt. Führung heißt, eine gemeinsame Perspektive zu entwickeln oder eine solche Perspektive, die zwar nicht gemeinsam ist, aber trotzdem eine für diesen Menschen.“

Die Betriebsumstellung kostete bislang 20 Prozent der Mitarbeiter ihren Job. Von den verbliebenen 120 haben etwa 100 irgendwann einmal an der „Leitbildarbeit“ teilgenommen. Knapp 30 Leute nehmen inzwischen noch an „Seminaren zur Mitarbeiterentwicklung“ teil – eine Woche in einem Hotel Malen, Kneten und „Gedankenarbeit“ etwa zum „Sinn der Familie, der Arbeit, wer möchte ich wirklich sein?“

„Betrieb in Umstellung“: so heißt das beim Bauernhof, der sich auf biologisches Ackern verlegt. Auch der Sofabauer in Umstellung muß sich eine neue Kundschaft suchen, die bereit ist, den höheren Öko-Preis zu zahlen. Auch er muß sich mit den Banken um Kredite schlagen. Gewinne kann er erstmal vergessen, allenfalls ganz kleine schwarze Zahlen weist die Schlüters jüngste Bilanz aus.

In schwachen Momenten entfährt dem Chef ein Stoßseufzer: „Es ist ein dornenreicher Weg ...“ Der Weg ist ein schmaler Grat: Auf der einen Seite der Terror des positiven Denkens, der In-einem- Boot-Mentalität und des Vertrauenszwangs. Auf der anderen Seite das Scheitern des Projektes – sollte sich nämlich herausstellen, daß die Arbeiter von ihrem Betrieb doch nur das eine wollen: Geld.