Ein Mandela für die Heilung Amerikas

Die Stelle des nationalen Helden und Hüters des amerikanischen Traums besetzt in den USA derzeit der schwarze Exgeneralstabschef Colin Powell / „Alles, was gut ist an Amerika“  ■ Aus Washington Andrea Böhm

Kein Zweifel: Dies ist Wahlkampf. Eine Drei-Mann-Band spielt auf dem Bürgersteig Jazz. Aus der Menschenmenge ragen rote, weiße und blaue Luftballons empor. Kameraleute und Fotografen drängeln. Die Fensterfront des Buchladens ziert ein mannsgroßes Poster mit seinem Konterfei. Davor verrenken ein paar Aufgeregte die Köpfe, um einen Blick in das Innere zu erhaschen. Sie stehen hier seit vier oder fünf Stunden in einer stetig wachsenden Schlange, um ihm für ein paar Sekunden gegenüberzutreten: Gläubige in Ehrfurcht, die ihren Heilsbringer sehen wollen. Das Reklameschild des benachbarten Delikatessenladens für den „Colin-Powell-Vier- Sterne-Hühnchensalat“ mit Extra- Schinken und Käse für 4,89 Dollar wirkt deplaziert, weil es das Idol in die Niederungen der Vermarktbarkeit zu ziehen droht.

Dabei tut Colin Powell genau das: Er vermarktet sich. Für seine Memoiren My American Journey hat er bereits bescheidene sechs Millionen Dollar als Vorschuß eingestrichen. „Meine Geschichte ist die eines schwarzen Kids ohne besondere Zukunftsaussichten aus einer Immigrantenfamilie in bescheidenen Verhältnissen, das in der South Bronx aufwuchs und irgendwie den Aufstieg zum Nationalen Sicherheitsberater des Präsidenten und schließlich zum Vorsitzenden des Generalstabs geschafft hat“, schreibt er in seinem Vorwort. „Es ist eine Geschichte über den Glauben – den Glauben an mich selbst und an Amerika. Es ist, vor allem, eine Liebesgeschichte: Die Liebe zu meiner Familie, meinen Freunden, der Armee und meinem Land.“ Kein PR-Manager hätte das pathetischer formulieren, kein Drehbuchautor einen schöneren Helden zeichnen, kein Wahlkampfberater einen idealeren Zeitpunkt wählen können.

In einer Zeit, da das Klagen über Moralverfall und Identitätsverlust in den USA zu einem nationalen Ritual geworden ist, kommt mit Colin Luther Powell ausgerechnet ein Schwarzer daher und präsentiert sich als leuchtendes Beispiel für die Wirklichkeit des amerikanischen Traums. Zumindest für die nächsten paar Wochen, in denen er in 26 Städten sein Buch präsentieren wird, hat er damit einen Zeitvertrag für die derzeit unbesetzte Stelle des nationalen Helden und Heilers bekommen. Wo immer er erscheint, erhält er rauschenden Beifall – ob als Redner auf „Motivationsseminaren“ (für eine Gage von bis zu 60.000 Dollar), als Stargast bei Washingtoner Partys oder als Autor bei Signierstunden in Buchläden, Supermärkten oder Militärstützpunkten. Die Presse entwirft ihm Siegesstrategien für den Präsidentschaftswahlkampf, während ein Potpourri von Prominenten von George Bush bis Lionel Hampton zusammen mit Millionen Mitbürgern hofft und betet, daß er kandidieren möge.

Etwa 2.000 von ihnen stehen jetzt vor dem Washingtoner Buchladen „Vertigo“. Die Menschenschlange, die sich mittlerweile um den ganzen Häuserblock windet, beweist Colin Powells integrative Fähigkeiten: Da steht die Anlageberaterin neben dem Hausmeister, der verschwitzte Fahrradkurier mit Rastalocken neben zwei geschniegelten Offizieren der US- Luftwaffe, Eierköpfe aus den umliegenden think tanks neben dem Kassierer aus dem besagten Delikatessen-Geschäft, Korea-Veteranen neben alten Bürgerrechtlern. Sie möchte an einem „historischen Moment teilhaben“, erklärt Jennifer Jones, 22jährige Absolventin der traditionsreichen schwarzen Howard-University, ihrem Nebenmann Ray Smith, einem 36jährigen weißen Computerfachmann. Für Jennifer Jones stellt Colin Powell eine Emanzipationsfigur vom Kaliber Nelson Mandelas dar. Für Ray Smith repräsentiert er „alles, was gut ist an Amerika“. „Powell hat uns heute hier zusammengebracht“, sagt Smith und strahlt seine Nachbarin an. „Das will was heißen. Ich komm' schließlich aus Alabama.“

Aber was soll das alles genau heißen? Keine Woche vergeht ohne eine neue Umfrage zu Colin Powell. Als Unabhängiger würde er bei Präsidentschaftswahlen 33 Prozent einstreichen gegen 30 Prozent für Bill Clinton und 24 für den bisherigen republikanischen Favoriten Bob Dole. Als Spitzenkandidat der Republikaner würde er Clinton laut „Time/CNN“-Umfrage mit 46 zu 38 Prozent abhängen. In einer Zeit, da allerorten die „Krise des schwarzen Mannes“ beschworen wird, haben über 70 Prozent der weißen Wähler einen positiven Eindruck von ihm. „Mit Colin Powell verbinde ich nicht die Hautfarbe“, sagt Bill McGinley, ein 47jähriger weißer Ex-Marine- Soldat, der 300 Kilometer aus New Jersey angereist ist, um Powells Autogramm zu bekommen. „Wenn ich Colin Powell sehe, sehe ich das Rot, Weiß und Blau unserer Nationalflagge.“ Er sei ideal, schreibt die Autorin Marjorie Williams: „Der Konservatismus, den seine Militärkarriere impliziert, gleicht den Liberalismus aus, den seine Hautfarbe impliziert – und umgekehrt.“

Powell selbst kennt seine Wirkung auf seine weißen Landsleute. „Erstens konfrontiere ich sie nicht mit Stereotypen oder bedrohlicher Mimik, was manche Schwarze tun“, erklärte er unlängst in einem Gespräch mit Henry Louis Gates, einem der prominentesten schwarzen Intellektuellen in den USA. „Zweitens kann ich ihre Vorurteile ausräumen, weil ich gute Leistungen erbringe. Und drittens bin ich nicht soo schwarz.“ Womit der General weniger seine vergleichsweise helle Hautfarbe meint als vielmehr seine Art zu reden. Die ist im Gegensatz zu der des schwarzen Predigers Jesse Jackson frei von Slang, von Pathos und anklagender Intonation. Und Powell ist charmanter.

Der General sei eine „sehr beeindruckende Persönlichkeit“, erklärte Jackson noch vor einigen Wochen – sichtlich bemüht, keinen schwarzen Bruderzwist aufkommen zu lassen. Doch inzwischen macht der schwarze Wortführer keinen Hehl mehr daraus, daß ihm der neue schwarze Shooting-Star gegen den Strich geht. Das hat nur zum Teil mit gekränkter Eitelkeit zu tun. Zwischen Powell und Jackson liegen Welten. Zwar hat sich der General in den letzten Wochen in einigen Fragen von der politischen Rechten distanziert: Er sprach sich gegen das Schulgebet und für eine wenn auch bescheidene Form von Waffenkontrolle aus. Über Schwangerschaftsabbrüche, so Powell, habe allein „die Frau mit ihrer Familie, ihrem Gewissen und Gott zu entscheiden“. Affirmative action, von der er im Militär selbst profitiert hat, will er beibehalten – und er weigert sich, weißen Amerikanern die Überwindung des Rassismus zu bescheinigen. Dies von ihm zu hören, trifft sie härter, als wenn Jesse Jackson den selben Vorwurf erhebt.

Doch Powell ist für die Todesstrafe; er bezeichnet sich als „steuerpolitischen Konservativen“, der die drastische Senkung der Kapitalertragsteuer für das geeignetste Mittel der Schaffung von Arbeitsplätzen hält; er hat als Vorsitzender des Generalstabs in aller Öffentlichkeit seinen Präsidenten desavouiert, als dieser den Bann gegen Schwule und Lesben in der Armee aufheben wollte. Seine Kritik am Fanatismus der christlichen Rechten nahm er vor einigen Tag in einem Zeitungsinterview zurück und pries statt dessen die Verdienste der „Christian Coalition“ um die moralische Erneuerung des Landes. Daß Clinton ihn jetzt auch noch preist, erhöht da nur die Verwirrung. Powells clintonesque Wendemanöver nähren die Spekulation, daß er mit seiner Promotiontour durch die USA mehr als nur Bücher verkaufen will. Wenn Powell kandidiert, dann aller Voraussicht nach als Republikaner – die Demokraten stehen ihm zu fern, und Unabhängigen wird im US-amerikanischen Wahlsystem das Siegen schwergemacht. „Ganz offensichtlich hat er erkannt“, resümierte zufrieden Ralph Reed, der Direktor der „Christian Coalition“, „daß der religiös-konservative Wählerblock zu groß ist, um ihn einfach abzutun.“

All das hindert viele schwarze Linksliberale nicht daran, ihm Unterstützung zuzusichern. Kweisi Mfume, ehemals Sprecher des „Black Caucus“, der Zusammenschluß schwarzer Abgeordneter im US-Kongreß, hält Powell für das beste, was „wir aufzubieten haben“; andere sind schlicht berauscht von der Aussicht, ein Schwarzer könnte ins Weiße Haus einziehen; wieder andere trauen ihm einen Marshallplan für die amerikanischen Städte zu. Auch Jennifer Jones, die Studentin, würde Powell als Republikaner unterstützen – obwohl ihr die Partei absolut zuwider ist. „Aber nur als Republikaner hat er eine Chance, gewählt zu werden – und ich glaube absolut, daß er dann das Beste daraus macht.“

Ein Zweifrontenkrieg für den Wiederaufbau

Soviel Vertrauen ehrt den Kandidaten. Aber es zeugt von geringer Kenntnis der Handlungsspielräume eines Präsidenten. Viele Amerikaner erhoffen sich von Powell militärische Effizienz und Durchsetzungsvermögen. Daß Powell seine Karriere als Soldat gemacht hat, hilft ihm enorm in einer Zeit, da viele militärisches Denken und militärische Methoden als opportunes Mittel im Umgang mit den Problemen der zivilen Gesellschaft ansehen: „Boot Camps“, in denen jugendlichen Straftätern Disziplin und Gehorsam angedrillt wird, entstehen in immer mehr Bundesstaaten; einen Boom erleben auch private „Wilderness Camps“, meist von Vietnam-Veteranen geleitet, in denen Eltern für tausende von Dollar ihre Sprößlinge abgeben, damit diese auf Gewaltmärschen „Überlebenstechniken und Selbstwertgefühl“ lernen. Powell wird diesem Trend nicht nur durch seine Biographie, sondern auch durch seine Rhetorik gerecht. Man müsse die Institutionen der Kernfamilie und der Schule wiederaufbauen, sagt er – „und zwar gleichzeitig, wie in einem Zweifrontenkrieg“.

Powells größter Bonus, seine militärische Traumkarriere, birgt auch die größte Gefahr. Natürlich wird ihm niemand seine hervorragende Rolle im Golfkrieg oder bei der Invasion Panamas vorhalten. Doch in den achtziger Jahren war Powell als enger Mitarbeiter von Verteidigungsminister Caspar Weinberger nachweislich in die Iran-Contra-Affäre verstrickt. Ein einsamer Demonstrant weist vor dem Washingtoner Buchladen Vertigo mit Flugblättern und Plakat auf diesen Umstand hin. Die Masse ignoriert ihn und seine höfliche Frage, ob man nicht ein paar neue Informationen über den General lesen möchte. Denn plötzlich ist Bewegung in die Schlange gekommen. Der Held ist eingetroffen, die Signierstunde beginnt.

Für Powell steht ein Tisch auf einem Podest – eine Konstruktion, die an einen Altar erinnert und die Stimmung sofort ins Sakrale umschlagen läßt. Das Gemurmel verstummt, aufgereiht wie zur Kommunion legen die Schlangesteher ihre Bücher auf den Tisch. Dort sitzt er, lächelt, verteilt freundliche Worte, bedankt sich. Händeschütteln gibt es nicht, der General legt kein einziges Mal den Stift aus der Hand. „800 Bücher schafft der pro Stunde“, raunt anerkennend die Buchhändlerin. Wieder draußen, halten viele ihr Autogramm in die Fernsehkameras – triumphierend, andächtig. Die Verlagsagentin verteilt Pressemappen inklusive Hochglanzposter mit den 13 Lebensweisheiten des Colin Powell. Nummer eins: „Nichts ist so schlimm, wie man denkt. Am nächsten Morgen sieht alles besser aus.“