Neue Kriegswolken über Kabul

Die Taliban-Miliz droht mit einem Angriff auf die afghanische Hauptstadt, falls Präsident Rabbani sich nicht ergibt. Rivalitäten zwischen Indien und Pakistan sorgen für neue Spannungen  ■ Von Bernard Imhasly

Dehli (taz) – Über der Hauptstadt Afghanistans brauen sich wieder Kriegswolken zusammen. Kaum haben die aus dem Exil zurückgekehrten Kabulis mit dem Wiederaufbau ihrer Häuser begonnen, fliehen die ersten schon wieder in Richtung Jalalabad im Osten des Landes. Der Kanonendonner, der zwei Jahre lang die Stadt erschütterte, hat zwar noch nicht eingesetzt. Aber die Kriegsparteien haben die ersten verbalen Salven abgefeuert. Aus dem vierzig Kilometer entfernten Maidan Shahr ließ sich Mullah Abdul Qayum mit der Prognose vernehmen, die Taliban würden die Verteidigungslinien der Regierungstruppen bei Argandeh überrennen, sobald ihre Vorbereitungen abgeschlossen seien. Und der Taliban-Führer Mohammed Omar meldete sich aus dem Süden der Hauptstadt mit der Aufforderung an alle ausländischen Hilfsorganisationen, Kabul zu verlassen. Am Mittwoch gaben die Taliban dem Regime von Präsident Rabbani bis Sonntag Zeit, um sich zu ergeben.

Die einschüchternde Rhetorik gehört zum Arsenal der afghanischen Islam-Studenten aus Pakistan, die in den letzten zehn Monaten den Süden und Osten des Landes eroberten. Diese Erfolge gründen wesentlich auf dem Appell der Taliban an die Bewohner und Verteidiger der gegnerischen Stellungen, im Namen Allahs ihre machtlüsternen Führer zu vertreiben. Dies war nur möglich, weil eine Reihe von Mudschaheddin zu den Taliban übergelaufen sind, von denen inzwischen bekannt ist, daß sie nicht nur den Koran schwingen. Viele sind alte Krieger, die früher Seite an Seite mit den heutigen Gegnern gegen die Sowjets gekämpft hatten; der Führer der Taliban in Maidan Shahr beispielsweise ist „Mullah Rocketi“, der sich früher als Stinger-Schütze der Ittehad–Islami–Partei ausgezeichnet hatte. Die Ittehad unter Abdul Sayyaf ist mit Rabbani verbündet.

Dieser nimmt die Taliban inzwischen wieder ernst. Zwar versichern Sprecher der Regierung, der Fall von Herat werde sich in Kabul nicht wiederholen, und tatsächlich wurden die Taliban im letzten März durch die Truppen von Ahmed Shah Massud, der hinter Rabbani steht, binnen Tagen besiegt. Aber seitdem haben sich die Taliban mit dem Warlord aus dem Norden, General Rashid Dostam, verbündet. Die Allianz gestattete diesem, im Schatten der Taliban– Erfolge in Herat die nördlich davon gelegene Provinz Badghis einzunehmen. Und auch Gulbuddin Hekmatyar, vor einem halben Jahr von den Taliban in die Flucht gejagt, hat seine Getreuen inzwischen wieder gesammelt und besetzt die strategisch wichtigen Zufahrtstraßen östlich der Hauptstadt. Beides sind zweifellos reine Zweckbündnisse, denn die Taliban mißtrauen dem machtbesessenen Hekmatyar; und in Dostam sehen sie einen ehemaligen Kollaborateur der Sowjets und den selbsternannten Beschützer der nördlichen Minderheiten, während die Taliban Paschtunen sind.

Dennoch zeigt die Regierung in Kabul zunehmend Nervosität. Diese äußerte sich etwa an den massiven Vorwürfen gegen Pakistan, das angeblich die Taliban unterstützt. Dem blutigen Sturm der pakistanischen Botschaft in Kabul folgte letzte Woche die Vorführung von angeblichen Mitgliedern des pakistanischen „Inter-Services Intelligence“ (ISI). Zu Wochenbeginn wiederholte die Regierung in einem Brief an die UNO ihre Anschuldigung, wonach bei der Eroberung des Luftstützpunktes Shindand auch pakistanische Helikopter zum Einsatz gekommen seien. Auch die Einladung des UNO-Vermittlers Mahmud Mestiri nach Kabul zeigt, daß Rabbani diesmal seiner Sache nicht mehr so sicher ist. Mestiri traf bereits am Dienstag in Kabul ein.

Aber das ohnehin schon verwirrende politische Schachbrett Afghanistans droht nun noch komplizierter zu werden. Als Reaktion auf Kabuls antipakistanische Tiraden hat die Regierung in Islamabad inzwischen angedeutet, daß sie ihre Politik der Gleichbehandlung aller afghanischen Fraktionen aufgeben werde. Das heißt im Klartext das Ende der Unterstützung des Regimes von Präsident Rabbani. Angesichts der Tatsache, daß nicht nur Nahrungsmittel und Medikamente für Kabul, sondern auch die meisten Waffenlieferungen an die Kriegsparteien aus Pakistan stammen, könnte dies über kurz oder lang die militärische Balance beeinflussen.

Vermutlich aus diesem Grund hat Rabbani seine Beziehungen mit Indien in den letzten Monaten intensiviert. Der pakistanische Staatssekretär Shaikh behauptete am vergangenen Montag, klare Beweise für eine militärische Unterstützung Indiens zu besitzen. In Delhi wurde dies mit dem Hinweis zurückgewiesen, Pakistan versuche damit nur seine eigene Einmischungspolitik zu kaschieren.