Schmerzensgeld für Altschaden?

■ Demonstrantin wird verurteilt, weil sie Polizisten ins Knie getreten haben soll

Nürnberg (taz) – „Die Sache ist etwas unklar geblieben.“ Volker Ackermann, Richter beim Amtsgericht Nürnberg, drückt sich betont vorsichtig aus. Was hat sich denn nun am 30. April letzten Jahres im Umfeld einer Wahlkundgebung der rechtsextremen Republikaner in Nürnberg abgespielt? Widersprüchliche Aussagen von Polizeizeugen, Uneinigkeit unter den Sachverständigen und als Hauptbelastungszeuge ein Polizist, der rechts und links verwechselt – da sieht es nach acht Verhandlungstagen mit der Aufklärung des Sachverhalts überhaupt nicht gut aus. Zumal der Richter das einzig objektive Beweismittel, die Polizeivideos vom Einsatzgeschehen, gar nicht erst zuläßt. Am Ende verurteilt er die 26jährige Julia B. wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte zu einer Geldstrafe von 80 Tagessätzen à 30 Mark.

An diesem 30. April pfiffen in Nürnberg über 2.000 DemonstrantInnen die Republikaner gnadenlos aus. Zuvor hatte ein Zug der bayerischen Polizeisondereinheit „Unterstützungskommando“ (USK) knapp 100 antifaschistische DemonstrantInnen auf dem Weg zum Kundgebungsort eingekesselt. Beim Abtransport zur Identitätsfeststellung soll nun Julia B. nicht nur Widerstand geleistet haben, sondern, so die Anklage, sich der versuchten Gefangenenbefreiung und Körperverletzung des Polizeibeamten Peter Kühnl schuldig gemacht haben. Julia B. soll den durchtrainierten 23jährigen USK- Mann durch einen gezielten Tritt von hinten gegen das linke Knie so schwer verletzt haben, daß der sich daraufhin nicht nur Zweidrittel seines Innenmeniskus habe entfernen lassen müssen, sondern fortan nurmehr beschränkt einsatzfähig gewesen sei. Deshalb versucht Kühnl, neben 6.000 DM Schmerzensgeld auch Schadensersatz in nicht bezifferter Höhe bei Julia B. geltend zu machen. Zusammen mit den Ersatzforderungen der Oberfinanzdirektion für die geleistete Lohnfortzahlung und die Behandlungskosten des Beamten würde sich das für Julia B. im Falle einer Verurteilung auf mehrere Zehntausend Mark summieren.

Doch die Sache gestaltete sich schwieriger, als sich Kühnl das ausgedacht hatte. Mehrere Polizeizeugen, die direkt neben ihm im Einsatz waren, konnten sich dummerweise so gar nicht an den verhängnisvollen Tritt erinnern. Polizist Kühnl selbst behauptete steif und fest, er sei zuvor nie wegen seines linken Knies in Behandlung gewesen, nur wegen des rechten. Tatsächlich bestätigten die behandelnden Orthopäden, der USK-Mann wäre schon am 25. 2. 94 wegen Schmerzen im linken Knie behandelt, eine Meniskusoperation sei gar geraten worden.

Merkwürdig auch, daß Kühnl, vorher nahezu wöchentlich in Kniebehandlung, nach dem „sehr schmerzhaften Tritt“ vier Tage bis zum Arztbesuch verstreichen ließ. Erst nach fünf Tagen machten die anderen USK-Männer ihre Aussagen, noch dazu alle übereinstimmend mit dem falschen Einsatzdatum. Eine Schwellung am linken Knie nach dem Einsatz attestierte nur der Polizeiarzt Wolfgang Glockel („Unsere Herrschaften kommen oft lädiert nach Hause“), versäumte es aber, dies auch in sein Krankenblatt einzutragen. Der zuständige Orthopäde diagnostizierte dagegen unzweideutig „unauffällige Weichteile“. Später nach der Operation stellte es sich gar heraus, daß am linken Meniskus auf jeden Fall ein „Altschaden“ vorliegt, der weit vor dem 30. April verursacht worden sein muß.

Trotz aller Widersprüchlichkeiten blieb Staatsanwältin Elfrich bei den Anklagevorwürfen und forderte acht Monate auf Bewährung. Julia B.s Verteidigerin Ute Stöcklein plädierte auf Freispruch. Kühnl habe mit einer „erstaunlichen Dreistigkeit und Konstanz die Unwahrheit gesagt“, um „die antifaschistische Szene zu kriminalisieren und sich nebenbei ein nettes Zubrot zu verdienen“. Bernd Siegler