Orpheus liebt Franziska

■ Blaumeier für Kleine / Eine Generalprobe im Schulzentrum Regensburger Straße

Alarm. Ein Achtklässler stürzt aufgeregt von der kleinen Bühne. Droben hält sich der Hauptdarsteller des angekündigten „Orpheus und Eurydike“ verschreckt Augen und Ohren zu. Das ist Orpheus – der braucht offensichtlich Hilfe. Wie dumm. Ausgerechnet bei der Generalprobe zur Projektwochenpremiere mußte die Musikanlage so laut knallen. Orpheus alias Dirk ist ganz fertig. Lärm macht ihm Angst. „Ob der das heute durchsteht?“, fragen leise die Praktikantinnen im Raum. Mitleidig umrunden junge MitspielerInnen, verkleidet als Hunde und Kätzchen, den Ängstlichen. Aber erst Benjamin, der Zivildienstleistende, bringt den Schutzbefohlenen zum Lächeln. Alles ist wieder gut.

Orpheus, griechisch gewandet im weißen Laken mit goldener Bordüre, wächst auf sein ganzes 13jähriges Format. Über ihm schütteln die Götter des Olymp hinter großen Masken die Köpfe. Es beginnt „eine Liebesgeschichte von vor 2.000 Jahren“ – in ihrer modernsten Version.

Im wahren Leben geht Orpheus in die Klasse 8 h, seine Eurydike in die 8 k. Beide kennen sich vom ersten Schultag an, ihre Klassenzimmer liegen im selben Gang einander gegenüber – aber doch sind es keine ganz gewöhnlichen Parallelklassen. Offiziell gehört Orpheus nämlich zur Schule am Wandrahm, zur alten „Sonderschule für geistig Behinderte“. Eurydikes Klasse dagegen, die 8 k, ist eine ganz gewöhnliche achte Realschulklasse. Nur die freie Entscheidung zur schulischen Kooperation verbindet beide – im Unterricht und im Theaterstück. Da gehört Orpheus, der junge Halbgott, zu seiner Nymphe.

Wenn er auf der Bühne aus Versehen ins Diesseits der Schulaula abdriftet und sein Blick an einem lachenden Zuschauer kleben bleibt, weiß Eurydike schon, was zu tun ist. In dieser Schule geht es gerade nicht um lange Reden, hier geht es um Einsatz – und den verpaßt just noch jemand anders.

„Malte, Niki und Yvonne!“ Der Deutschlehrer und Regisseur Atze Casper hat seine drei RealschülerInnen zwar strategisch verteilt – aber gerade haben sie geträumt. Nun setzt der griechische Sirtaki erst zwei Takte später ein. Kurz darauf wird Eurydike von der Schlange gebissen, stirbt, und ihr Orpheus macht sich zu den Göttern auf, um die Frau zu befreien. Alles Pantomime.

Seit Ostern liefen die Vorbereitungen für das Kooperationsstück. Während dieser Zeit schrieben die RealschülerInnen es probeweise auch zur Rockoper um: Da ging Orpheus auf einen Drogentrip, der Rest war Rausch. Derweil arbeiteten Jan, Fadime und ein paar andere aus der 8 h am Programm: Hunderte von Papierchen wurden geknüllt und in schwarzem Tee antik patiniert. Heraus kam ein „Pergament“. Hier lernt jeder anders.

„Wir setzen uns wöchentlich zusammen und planen, was wir gemeinsam unterrichten und was getrennt“, erklärt Sonderschullehrer Michael Haag die seit acht Jahren laufende Kooperation. Mit ihr sind Orpheus und Eurydike groß geworden – aber auch die LehrerInnen sind dabei gewachsen. „Eine Teamarbeit, die methodisch so vielfältig ist, wird an Realschulen selten praktiziert“, findet Deutschlehrer Atze Casper. Darauf wolle er nie wieder verzichten. Aber das Schönste am gemeinsamen Unterricht von nichtbehinderten und behinderten Kindern ist der Zuspruch, den er inzwischen erfährt.

„Es gibt mehr Anmeldungen für Kooperationsklassen, als wir annehmen können“, bestätigt Ursula Gallenkamp-Behrmann. Noch ist sie die Leiterin der Sonderschule am Wandrahm – aber wenn die mal verkauft würde, könnten vom Erlös notwendige Anbauten für dezentrale Kooperationsschulen bezahlt werden, haben Strategen schon errechnet. „Das ist Spekulation“, sagt die Schulleiterin. Fakt sei lediglich, daß für jede weitere nachwachsende Kooperationsklasse der Platz fehle. Der Grund dafür? „Bisher wurden die Kooperationsfragen nur von Jahr zu Jahr gelöst.“ Daß seit Jahresbeginn das neue Bremer Schulrecht gilt, habe mit den Raumproblemen nichts zu tun, sagt die Pädagogin. Zwar spreche das Gesetz endlich ausnahmslos jedem Kind das Recht zu, zur Schule zu gehen – aber de facto werde das schon lange praktiziert.

Orpheus Klassenkameradin Franziska ist das beste Beispiel dafür: Die Rothaarige mit den Sommersprossen ist schwer mehrfach behindert. Sie kann ihre Hände nicht bewegen. Das war nach dem alten Gesetz ein Grund, ihr das Recht auf den Schulbesuch abzusprechen – in der Wirklichkeit ist die zarte Rollifahrerin schon in der achten Klasse. Allerdings – im Stück trat sie nicht auf. Doch Orpheus macht alles wieder wett.

Die Generalprobe ist gut überstanden. Wie vor 2.000 Jahren mißlang die Rettung Eurydikes aus der Unterwelt. Denn natürlich hat der neugierige Orpheus sich im Hades mal so richtig umgeschaut. Verbotenerweise auch nach Eurydike. Damit hat er ihr die Tour zurück ins Leben vermasselt. Historisch betrachtet.

Aktuell ist nicht sicher, ob Orpheus-Dirk das so genau weiß. Aber das ist egal: Im wirklichen Leben liebt Orpheus sowieso Franziska. Bei der Probennachbesprechung zieht er ihren Rollstuhl behutsam zu sich heran und bläst ihr zärtlich ins Ohr. Womöglich wußte Orpheus genau, was er tat. Eva Rhode