Neues von Beethoven

■ Sternstunde beim Bremer Musikfest: John Eliot Gardiner in der „Glocke“

„Man muß immer das Gefühl haben, daß es neue zeitgenössische Musik ist“: dies ist eine der Interpretationsmaximen des englischen Dirigenten John Eliot Gardiner, der heute einer der großen Stars der historischen Aufführungspraxis ist. Auf der eigentlich einfachen Basis eines Instrumentariums, das dem Zeitpunkt der Komposition entspricht, einer Spielweise, die durch Artikulations- und Bogentechniken eine unglaubliche Schnelligkeit Transparenz garantiert, einer Textgenauigkeit, die stets das Manuskript zur Grundlage hat und einer generellen Spontaneität gelingt ihm meistens sein Ziel. Im Rahmen des Musikfestes ging er mit seinem „Orchestre Révolutionaire et Romantique“ noch einen Schritt weiter: die erste Sinfonie von Ludwig van Beethoven wurde präsentiert in ihrem Uraufführungskontext.

Am 2. April 1800 stellte sich der revolutionäre Querkopf Ludwig van Beethoven dem Wiener Publikum als Komponist, Improvisator und Pianist in einem eigenen Konzert vor. Diese „Große musicalische Academie“ an der Wiener Burg erklang jetzt in der Glocke und rief zu Recht Begeisterungsstürme hervor.

Interessant war zunächst einmal die Einbettung von Beethovens Werken in die von Haydn und Mozart: Die Sprache ist gemeinsam, der individuelle Ausdruck unvergleichlich. Mit Mozarts G-Dur-Sinfonie KV 318 erklangen schwindelnde Crescendi, als seien sie in einem Studio hergestellt, großartig farbig und differenziert auch die Bläserfarben. Zwei Arien aus Joseph Haydns „Die Schöpfung“ erinnerten an deren ein Jahr zurückliegende Uraufführung: Da war der fast siebzigjährige Meister mit seinem aufklärerischen Naturbegriff fanatisch gefeiert worden. Der Sängerin Donna Brown gelang mit einem berückenden Piano das Eintauchen in die Welten der Natur.

Doch dann der Meister selbst: als Pianist und Komponist mit seinem Klavierkonzert in C-Dur, das durch die Wiedergabe des Pianisten Robert Levin im Zusammenspiel mit dem Orchester zu einer Sternstunde der Interpretation wurde. So viel farbenreiche, sprechende Artikulation, so viel hochsensibler Kontakt mit dem Orchester, so viel immer neue Nuancen der Themen: die anschließende Umarmung von Dirigent und Pianist wirkten wie eine Reaktion auf diese außerordentliche gemeinsame Leistung.

Dann improvisierte Robert Levin nach Themen, die ihm vom Publikum gegeben wurden: das war schicker Schaum, mit so vielen Dreiklangsauf- und ab wird es Beethoven sich wohl nicht geleistet haben können.

Dies alles und dann noch das leider unfertig gespielte Septett in Es-Dur waren die Vorbereiter für die Uraufführung der ersten Sinfonie, die tatsächlich klang wie zwar nicht unbedingt „neue zeitgenössische Musik“, aber wie eben erfunden. Mit vibrierender Heftigkeit klangen die Sforzati, grell wurden die Dissonanzen ausgespielt, atemberaubend die dynamischen Perpektiven.

Die ganze Sinfonie wirkte wie die Auseinandersetzung einer Konvention mit neuen mitreißenden Ideen: „Weitergehen ist in der Kunstwelt, wie in der ganzen großen Schöpfung Zweck“, schrieb Beethoven. Was er damit gemeint haben könnte, war hier nicht nur historisch nachhvollziehbar durch die Programmabfolge, sondern vor allem auch durch die Interpretationen des fabelhaften Orchesters unter John Eliot Gardiner: Bitte wiederkommen!

Ute Schalz-Laurenze