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SanssouciNachschlag

■ Sozrealistische Träume und andere Details – über einige Theaterpremieren der letzten Woche

Frauen in langen Kleidern laufen über die Bühne. Müßiggehende Männer treten auf und trinken Tee. Nervöse Störungen der Tochter des Hauses werden als Krankheit gehandelt, bei der sie „in den Abgrund geschaut“ hat. Dieses Drama könnte von Tschechow sein. Es ist aber von Gorki. Die Kritik an der ranzig gewordenen besseren Gesellschaft ist entsprechend konkreter. „Kinder der Sonne“ wurde ein Jahr nach Tschechows Tod geschrieben, 1905, im Jahr des „Blutsonntags“. Damals zogen hunderttausend hungernde Menschen vor das Petersburger Winterpalais, und zaristische Truppen feuerten in die Menge. Gorki selbst wurde dabei verhaftet. In der Peter-und-Paul-Festung schrieb er das Stück über Seelenwirren in Gutsbesitzerkreisen, über einen Frauen prügelnden Schmied und Unruhe im Volk. Aus diplomatischen Gründen verlegte er die Handlung in das Jahr 1892, die Zeit des Cholera-Aufstands.

An einer Stelle hat Jelena, die Frau des weltvergessenen Chemikers Pavel, einen Traum wie ein verfrühtes sozrealistisches Gemälde: Einfache und entschlossene Menschen stehen am Bug eines grünumwogten Schiffes und blicken in die hehre Zukunft. Pavels Schwester Lisa indessen leidet an der Kluft zwischen Arm und Reich – mit Rücksicht auf ihre Nerven natürlich ohne sie überbrücken zu wollen. Am Ende tobt draußen der Mob, drinnen im Gut ist man ratlos. Auf der Bühne des Maxim Gorki Theaters und in der Ausstattung Hansjörg Hartungs ist der Himmel von Anfang an schwefelgelb und kann einem jederzeit als Platte auf den Kopf fallen. Wellblechzäune trennen innen und außen. Und am Ende der Inszenierung des neuen Chefregisseurs K.D. Schmidt verfärbt sich der Horizont blutorangenrot.

Susanne Böwe, Anna Steffens und Thomas Schmidt in Maxim Gorkis „Kinder der Sonne“ Foto: Thomas Aurin

Zweierlei erstaunt an dieser Aufführung, die die erste eigene Spielzeit des bisherigen Interimsintendanten Bernd Wilms einleitet. Erstens die Qualität der neu engagierten DarstellerInnen, von denen die meisten unter Wilms schon in Ulm gearbeitet haben. Mit Susanne Böwe und Marie-Lou Sellem etwa hat das MGT jetzt zwei wunderbare jüngere Charakterdarstellerinnen komplementärer Natur. Böwe ist eine imposante und leidenschaftliche Erscheinung, die hier als Nachbarin Melanija mit komischer Inbrunst den Chemiker so sehr liebt, daß sie die Bücher ableckt, die er in der Hand gehalten hat – o zarte Walküre. Sellem hingegen ist als Jelena die kühle Intellektuelle, dunkel, schmal und spröde, doch nicht ohne Sinnlichkeit. Das ganze recht junge Ensemble, das hier auf der Bühne steht, hat spürbar Lust und das Vermögen zu spielenspielenspielen, indes – und das ist zweitens erstaunlich –, es wird von Chefinszenator Schmidt in einen so ausgesucht uninteressanten Realismus gepfercht, daß einem diese ganze vorrevolutionäre Angelegenheit genauso alt vorkommt, wie sie auch ist.

Wieder am 28. und 30.9., 19.30 Uhr, Unter den Linden, Mitte

An eine realistische Darstellungsweise hält sich übrigens auch das Theater Affekt, das am Freitag ausgerechnet im 3. Stock der realismusfeindlichen Volksbühne seinen Beitrag zum Festwochen-Überthema Moskau–Berlin herausbrachte: „Das dritte Rom“, ein zeitgenössisch russisches Stück von Alexander Sepljarski, inszeniert von Lars-Ole Walburg. Diese Szenen über eine russische Generation X, die im Grunde auch nicht anders trinkt und leidet als die Generationen – sagen wir – M bis W, jedoch sind durchaus sehenswert. Realismus gibt hier bloß die Richtung an – die Erfüllung liegt im Visuellen, in einem poetischen Rhythmus und anderen Details (Näheres zur Aufführung in einem Porträt des Theaters Affekt am Ende dieser Woche).

27.9.–2.10. und 4.–7.10., 20 Uhr, Volksbühne, 3. Stock, Rosa- Luxemburg-Platz, Mitte

Dem Freien Schauspiel ging es am Donnerstag beim ersten Teil des Projekts „Großstadtneurosen“ hingegen noch ganz um eine Selbsterfahrungsklientel, die etwa den Generationen O bis V zuzurechnen wäre. Um Realismus war es allen hierbei jedoch um so mehr zu tun. In dem Stück „Casa Matriz“ von Diana Raznovich will sich eine Frau an ihrem 30. Geburtstag mal so richtig die Mutter machen lassen und mietet eine entsprechende Darstellerin zwecks Aufarbeitung diverser Kindheitsnotstände. Nichts dagegen einzuwenden, auch hier kann man ja mal Boulevardtheater machen – wenn man es kann. Hoffentlich haben Regisseur Ulrich Michael Heissig und die Darstellerinnen Ursula Bräunlich und Josta Hoffmann etwas über sich erfahren dabei, ich als Zuschauerin wollte soviel eigentlich gar nicht wissen.

Bis November, Do.–So., 20.30, Pflügerstraße 3, Neukölln Petra Kohse

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