"Das Parlament gleicht einem VEB"

■ Vom West-Mief verdrängt, durch West-Seilschaften verunsichert: Nach fünf Jahren macht sich bei den Ost-Abgeordneten Frust breit / Wer in der DDR angepaßt lebte, ist auch im West-Parlament erfolgreich

„Was mache ich hier eigentlich?“ Diese Frage habe er sich oft gestellt, wenn er im Rechtsausschuß des Abgeordnetenhauses von Berlin saß, erzählt Reinhard Schult, bis zu seinem Austritt vor zwei Wochen für die Bürgerbewegung „Neues Forum“ in der Volksvertretung. „Da herrscht fast eine bierselige Atmosphäre. Es geht zu wie am Stammtisch, die sind alle alte Kumpels.“

Künftig muß Schult sich nicht mehr nach dem Sinn seiner Parlamentsarbeit fragen: Weder er noch seine beiden Mitstreiter aus der ehemaligen DDR-Opposition, Irena Kukutz und Sebastian Pflugbeil, kandidieren bei der Wahl am 22. Oktober. Schon jetzt ist nur noch Pflugbeil für das Neue Forum im Parlament, Irina Kukutz verließ die Organisation letztes Jahr. Damit ist klar: Für die Verfechter von mehr Basisdemokratie, die Kritiker des BRD-Kapitalismus und Hoffnungsträger von 1989 ist im vereinigten Berliner Parlamentarismus kein Platz. Die Bürgerbewegung, die neben der PDS noch eine reine Ost-Vertretung erhalten wollte und sich deswegen nicht mit den Grünen zusammenschloß, ist von der politischen Bildfläche in Berlin verschwunden.

Scheinbar verschwunden sind auch die übrigen 98 Ostberliner Parlamentarier. Zwar sitzen sie, außer den 19 PDSlern, in den Fraktionen der etablierten West-Parteien. Aber: „Bis auf wenige Ausnahmen sind sie passiv und haben sich freiwillig in die zweite Reihe gesetzt“, sagt Renate Künast (aus Westberlin und Bündnisgrüne). 1990 aus der Stadtverordnetenversammlung in das Abgeordnetenhaus gewechselt, sind die Bürgerrechtler mit Verve und Selbstbewußtsein angetreten. In Berlin sollte es keinen Beitritt geben wie im Bund, sondern ein Zusammenfinden. In der Hauptstadt wollte man sich den Westen nicht überstülpen lassen.

Heute haben in den großen Parteien nur wenige wichtige Positionen inne. Der Vorstand der SPD- Fraktion ist zwar zu zwei Dritteln mit Ostlern besetzt, aber sie besteht auch knapp zur Hälfte aus Mitgliedern mit DDR-Vergangenheit. Die CDU leistet sich mit Gisela Greiner eine Parlamentarische Geschäftsführerin und Fraktionsvorsitzende aus der ehemaligen Blockflöten-CDU. Der Rest aber muß sich mit Sprecherfunktionen zur Jugend- oder Kulturpolitik begnügen. „Harte“ Themen wie Wirtschaft, Inneres oder Finanzen bleiben in der Regel fest in Wessi-Hand. Auch das Abgeordnetenhaus, Spiegel der Gesellschaft, blieb also westlich dominiert. „Hier herrscht eine familiäre Atmosphäre. Es ist unmöglich, da reinzukommen, die machen keinem Platz“, sagt Hans-Werner Vogel, CDU-Abgeordneter aus dem Prenzlauer Berg. Vogel schmeißt die Brocken hin, er wird nicht mehr kandidieren.

Wo also sind sie geblieben, die friedlichen Revolutionäre aus der Stadtverordnetenversammlung? Versunken im West-Mief? Oder orientierungslos über neue Gesetze, Verordnungen, Verfahren und Journalisten? Wohl beides. Irena Kukutz blickt zurück im Frust: „Bis ich verstanden hatte, wie die Dinge laufen, zum Beispiel, daß da in den Ausschüssen schon vor einer Abstimmung alles zwischen SPD und CDU abgesprochen ist, war schon die Hälfte der Legislaturperiode vorbei.“ Wie 16 Millionen anderer Ex-DDR-Bürger auch fühlen sie sich herablassend behandelt. Daß ihre neuen Kollegen, immerhin knapp die Hälfte des Abgeordnetenhauses, eine eigene Biographie hatten, andere Erfahrungen als zwanzig Jahre Abgeordnetenhaus gemacht hatten, interessierte niemanden der West-Politiker, erinnert sich Sybill Klotz (aus Ostberlin), Spitzenkandidatin und stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Bündnisgrünen. Statt dessen mußte die Bürgerrechtlerin Irina Kukutz sich bei einer Verfahrensfrage sagen lassen, daß sie wohl die Demokratie noch nicht begriffen habe.

Die meisten der Ostberliner aber waren nicht zwanzig Jahre lang Bürgerrechtler, sondern nur in den Wende-Jahren 1989/1990. Vorher hatten sie mit dem SED- Regime Kompromisse geschlossen, anstatt Widerstand zu leisten. „Vielleicht treten die Ostler deswegen nicht selbstbewußt genug auf. Ich habe das Gefühl, von den Westlern wird untergründig vermittelt: Du mußt dich auch schuldig fühlen, du bist nicht vollwertig“, meint Klotz. Dafür gibt es ausnahmsweise volle Zustimmung von der CDU: Auch Vogel fühlte sich von seinen Fraktionskollegen „moralisch niedergemacht“.

Selbstbewußtes Auftreten aber ist neben der Volljährigkeit Mindestvoraussetzung für politisches Wirken in der Mediendemokratie. Selbstdarstellung via Presse, die Sorge darum, im Gespräch zu bleiben, ist für die Ost-Politiker ungewohnt. „Wir müssen öfter auf die Pauke hauen“, sagt Silvia Picker (Berlin-Ost und SPD). Offenbar ist es eine Mentalitätsfrage: Im Osten sagten die Menschen „wir“, im Westen „ich“, meint ihr Fraktionskollege Knut Herbst.

Insgesamt sind diejenigen in den etablierten Parteihierarchien erfolgreicher, die vor 1989 systemkonform lebten. Sie passen sich besser an. Aber ihnen fällt es auch leichter als den Ex-DDR-Opponenten, sich zu Experten für einen Bereich aufzuschwingen und sich das entsprechende Wissen zu erarbeiten. Das Bewußtsein, politische Karriere über zielstrebige Arbeit zu machen, sei nicht so ausgeprägt, sagt Herbst. Aus den westlichen Bezirken kam 1991 nur ins Abgeordnetenhaus, wer sich in einer Parteihierarchie von der Basis hochgedient hatte. Aus dem Osten rückten größtenteils Menschen in das Parlament, die entweder aus der Wendesituation heraus plötzlich in der Politik gelandet waren, oder einige wenige aus der DDR- Opposition. Und da „mußte man nur einen Zettel vollschreiben, schon war man in der West-Presse veröffentlicht“, erinnert sich Schult. Sacharbeit war nicht nötig.

Für Schult ist die Parlamentsarbeit im Westen zwar das genaue Gegenteil, aber auch nicht besser: Kiloweise Papier für Anträge ohne Konsequenzen oder nur mit empfehlendem Charakter würden da produziert. In dieser Bürokratie konnte das Neue Forum schon technisch gar nicht mithalten, denn als „Gruppe“ ohne Fraktionsstatus hatten sie beschränkte Kapazitäten.

Für diejenigen, die sich nun aus dem Abgeordnetenhaus zurückziehen, von Schult bis Vogel, ist Bürgerpolitik, die staatliche Macht kontrolliert, aus dem Parlament heraus nicht möglich. Die zu kontrollierende Macht des Parlaments und die zu kontrollierende Regierung seien zu eng verwoben. Resümee von Schult: „Das Abgeordnetenhaus erinnert mich an einen VEB.“ Nina Kaden