■ Gleichzeitig erweitern und vertiefen geht nicht
: Die EU beißt sich fest

Die Europäische Union hat keine Zukunft. Zwei Tage lang haben die 15 Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer auf Mallorca nachgedacht, wie der Verein für das nächste Jahrhundert fit gemacht werden kann. Herausgekommen ist eine Bestandsaufnahme unterschiedlicher Interessen, mit denen sie noch fünf Jahre ergebnislos weiterdiskutieren könnten. Jeder will eine Reform der EU, aber jeder will eine andere. Kohl will eine engere Zusammenarbeit in der Innen- und Außenpolitik, der britische Premier John Major will, daß die EU weniger macht, aber das wenige besser. Der französische Präsident Chirac will eine „variable Geometrie“, bei der sich jeder das ihm Genehme herauspickt. Und der Rest will irgend etwas dazwischen.

Es ist nicht schwer vorauszusagen, daß die Regierungskonferenz 1996 an ihrem Anspruch scheitern wird, die Zusammenarbeit zu vertiefen und die EU gleichzeitig für die Osterweiterung vorzubereiten. Eine EU mit 20 oder 25 Mitgliedsländern kann keine gemeinsame Politik machen, weder innen- noch außenpolitisch. Wenn der Anspruch trotzdem aufrechterhalten wird, kann die Regierungskonferenz nur schiefgehen.

Das ist nicht einmal schlimm. Die Utopie von einem einheitlichen Europa von Lissabon bis Bialystok bietet kein erstrebenswertes Ziel mehr. Es war eine Utopie, die vor allem vom gesamteuropäischen Wunsch gespeist wurde, den Kalten Krieg zu überwinden. Das haben wir hinter uns. Und was haben Polen und Portugal dann noch gemeinsam, außer daß in beiden Ländern gelegentlich noch mit Ochsen gepflügt wird? Tatsächlich hat Portugal sogar am wenigsten Interesse, Polen mit ins Boot zu nehmen. Es fürchtet um die finanzielle Solidarität aus Brüssel.

Als die EU noch EWG und dann EG hieß, war sie vor allem die wirtschaftliche Absicherung einer Verteidigungsgemeinschaft. Das war ihr Kitt, der ausreichte, daß die Mitgliedsländer immer wieder nationale Interessen hinter die Notwendigkeit der europäischen Zusammenarbeit zurückgestellt haben. Nach dem Fall der Mauer und der Auflösung des Ostblocks wurde die Angst vor dem neuen großen Deutschland zum Ersatzkitt. Die Nachbarn hatten ein fundamentales Interesse, den Koloß „einzubinden“. Für die Bundesregierung hieß das, daß sie ihr neues Gewicht nur in einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik nutzen konnte, wollte sie nicht dauernd die Nachbarn gegen sich aufbringen.

Das deutsche Interesse an einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik ist geblieben, aber die Angst der Nachbarn ist weg. Fünf Jahre nach der Einheit wird Deutschland nicht mehr als gefährlich angesehen, Kohl allenfalls als lästiger Schulmeister, ansonsten aber als berechenbar. Das ist an sich eine schöne Nachricht. Bloß ist damit auch in fast allen Mitgliedsländern die Motivation weggefallen, ein großes und gleichzeitig eng verzahntes Europa zu bauen, wie Kohl das vorschwebt. Das heißt nicht, daß es nicht weiterhin Gründe gäbe, Länder wie Polen oder die Tschechische Republik wirtschaftlich näher an die Europäische Union heranzuführen und schließlich einzugliedern. Das ist schon allein für die Stabilität und die Sicherheit in Europa notwendig. Aber es gibt keinen Grund, warum etwa London gegen seinen Widerstand zu einer gemeinsamen Außenpolitik überredet werden sollte. Dafür gibt es in Großbritannien keine Mehrheiten und auch keine Notwendigkeit.

Kohls Traum von einer einheitlichen Europäischen Union, mit einer Wirtschafts- und einer Außenpolitik blockiert die Osterweiterung. Je eher die EU diese Idee fallenläßt, desto besser für alle. Die Regierungskonferenz 1996 war vor vier Jahren in Maastricht vereinbart worden, um der Währungsunion ein politisches Dach zu bauen. Doch die Herausforderung der Stunde ist nicht die gemeinsame Währung, sondern die Osterweiterung. Ein größeres Europa kann aber nur lockerer geflochten sein. Keines der Kandidatenländer kann auf absehbare Zeit die Kriterien für eine Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union erfüllen. Wichtig ist, daß sie wirtschaftlich stabilisiert werden. Darauf sollte sich die EU konzentrieren.

Wenn die Osterweiterung in absehbarer Zeit eine Chance haben soll, muß sich die EU auf das Wesentliche konzentrieren: auf den Abbau der Zoll- und Handelsschranken und auf gemeinsame Umwelt- und Sozialstandards, das gehört zusammen, nicht mehr und nicht weniger. Damit könnte selbst Großbritannien leben, auch wenn bis zur Übernahme der Sozialcharta noch einige Überzeugungsarbeit nötig ist. Aber mit dem Versprechen, London dafür von der gemeinsamen Innen- und Außenpolitik zu verschonen, müßte das möglich sein. Auch Major ist der Rolle des Dauerbremsers überdrüssig. Die Europäische Union wäre dann zwar keine politische Union, aber das ist sie jetzt auch nicht.

Eine Europäische Union, in der alle bei allem mitmachen, wird es nie geben, nicht nur Großbritannien hat daran kein Interesse. Eine Europäische Union aber, in der jeder nach Gusto auswählt, in welchen Bereichen er teilnimmt und worauf er verzichtet, führt zu Mißtrauen und Spannungen, die jede Gemeinschaft unterminieren.

Wenn einige Länder unbedingt eine gemeinsame Währung wollen, dann können sie die einführen. Und dazu gehört dann auch die gemeinsame Außen- und Innenpolitik. Nichts bindet Volkswirtschaften enger zusammen als eine einheitliche Währung – und eine solche Gemeinschaft braucht ein politisches Dach. Wer an der Währungsunion mitmacht, muß sich auch an der politischen Union beteiligen, das sind zwei Seiten derselben Medaille. Daraus ergeben sich auch die Teilnahmekriterien. Wer sich auf eine einheitliche Währung einläßt, sollte mehr gemeinsam haben als eine niedrige Inflationsrate. Eine Tradition der Zusammenarbeit oder kulturelle Bindungen sind mindestens genauso wichtig.

Bundesstaat nennt man so etwas, Teilnahme freiwillig und auf wenige Qualifizierte begrenzt. Das andere, die erweiterte Wirtschaftsgemeinschaft, kann schon aufgrund ihrer Größe allenfalls ein lockerer Staatenbund sein, ein Zweckbündnis ohne tiefere Bindungen. Länder, die sich qualifizieren, können aufrücken. Im Grunde läuft die Entwicklung zwangsläufig auf ein Kerneuropa hinaus, wie es schon einmal diskutiert und wieder verworfen wurde. Das sogenannte Lamers-Papier hatte den Fehler gemacht, Eitelkeiten zu verletzen, indem unnötigerweise Länder beim Namen genannt wurden, die nicht dabeisein würden. So wie es aussieht, wird sich die Regierungskonferenz erst einmal so richtig festfahren müssen, bevor die Regierungen reif sind, die Idee wieder auf den Tisch zu bringen. Alois Berger