Arafat war fast schon abgereist

Die zweite Phase des Nahost-Friedensprozesses ist eingeleitet. Israel zieht seine Truppen aus dem Westjordanland zurück – und behält doch die entscheidenden Machtbefugnisse  ■ Aus Tel Aviv Amos Wollin

Gegen 13 Uhr 30 war es endlich soweit: Im Hilton-Hotel des ägyptischen Verhandlungsortes Taba setzten die sichtbar übermüdeten Chefunterhändler der israelischen und palästinensischen Verhandlungsdelegationen ihre Unterschriften unter das neue Zwischenabkommen „Oslo 2“, das den Abzug der israelischen Besatzungstruppen aus dem Westjordanland regeln soll. Mit der Paraphierung ist der Weg frei für die feierliche Unterzeichnung des Dokumentes am Donnerstag in Washington.

Es war höchste Zeit. Den Delegationen saß der Beginn des jüdischen Neujahrsfests am gestrigen Nachmittag im Nacken, der alle weiteren Verhandlungen gestoppt hätte. Und noch am Morgen war Palästinenserführer Jassir Arafat nach einer Schreierei mit Israels Außenminister Schimon Peres wütend aus dem Verhandlungssaal gestürmt und hatte schon abreisen wollen – laut PLO-Sprecher Marwan Kanafani ging es bei der lautstarken Auseinandersetzung um die Bewegungsfreiheit der palästinensischen Polizei. Der Kommandeur der israelischen Streitkräfte im Westjordanland sei dem PLO- Chef hinterhergelaufen, um ihn zu beruhigen, aber nur die fürsorgliche Intervention US-amerikanischer und ägyptischer Vermittler konnte Arafat davon abbringen, sofort aus Taba abzureisen.

Streitpunkt blieb bis zuletzt die Freilassung der 5.000 palästinensischen Gefangenen aus israelischer Haft. Während die palästinensische Seite auf einem festen Zeitrahmen und der Freilassung aller 30 weiblichen Gefangenen bestand, lehnte die israelische Seite das in sechs Fällen mit dem Hinweis ab, sie seien an Attentatsversuchen beteiligt gewesen.

In den kommenden zwei Jahren, so will es das Abkommen, sollen palästinensische Institutionen die israelische Besatzungsmacht als Verwaltungsinstanz schrittweise ersetzen. Der größte Teil des Gebietes jedoch bleibt im Besitz Israels – ebenso wie die Entscheidungsgewalt in Sicherheitsfragen.

Israels Armee wird sich aus den größeren palästinensischen Städten und Ortschaften zurückziehen – mit Ausnahme von Hebron. Die 450 jüdischen Siedler in der Innenstadt von Hebron sollen weiterhin durch Israel geschützt werden. Hebrons Bürgermeister Mustafa Natsche erklärte, die Stadt werde sich damit nicht zufriedengeben. „Wir brauchen wenigstens eine feste Zusage, daß alle Siedler noch vor Beginn der Schlußverhandlungen im Mai nächsten Jahres Hebron verlassen“, forderte Natsche.

Das Abkommen regelt auch die Bedingungen der ersten palästinensischen Wahlen, die voraussichtlich im Frühjahr 1996 stattfinden werden. Der Palästinenserrat, das Parlament, wird 82 Abgeordnete umfassen – mehr, als Israel ursprünglich akzeptieren wollte.

Schon haben Radikale auf beiden Seiten das Verhandlungsergebnis heftig kritisiert. Militante Likudführer tönten, Israels rechte Oppositionsparteien würden das Abkommen nicht respektieren. Die Opposition verlangt eine Sondersitzung der Knesset, um noch vor der Unterzeichnungszeremonie in Washington über Oslo 2 abstimmen zu können. Die Regierung könnte sich dabei nur auf eine knappe Mehrheit stützen – und auch das nur, wenn sie die Abstimmung mit der Vertrauensfrage verbindet, um eventuelle Abtrünnige des eigenen Lagers zur Disziplin zu zwingen. Regierungschef Rabin wird deshalb alles versuchen, damit die Knesset erst nach dem kommenden Donnerstag zusammentritt.

Und auch auf palästinensischer Seite gibt es Kritik. In Hebron und anderen Städten kam es unmittelbar nach Bekanntwerden der Einigung zu Protesten. In Nablus wurde dabei ein 19jähriger Palästinenser von der israelischen Armee erschossen. Imad Faluji, ein Führer der radikalen islamistischen Hamas-Bewegung im Gaza-Streifen, warf Arafat Verrat vor: Das einzig wichtige Ziel bleibe ein unabhängiger palästinensischer Staat. „Von diesem Ziel scheinen wir heute weiter entfernt als je zuvor“, erklärte Faluji vor Journalisten.